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Verzehrt
Blake Pierce


Ein Riley Paige Krimi #6
Ein Meisterwerk der Spannung! Die Autorin schafft es auf hervorragende Weise den Charakteren eine psychologische Seite zu geben, die so gut beschrieben ist, dass wir uns in ihre Köpfe versetzt fühlen, ihren Ängsten folgen und über ihren Erfolg jubeln. Die Handlung ist sehr intelligent und wird Sie das ganze Buch hindurch unterhalten. Voller Wendungen wird Sie dieses Buch bis zur letzten Seite wach halten. – Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (zu Verschwunden) VERZEHRT ist Band #6 in der Bestseller Riley Paige Krimi Serie, die mit dem #1 Bestseller VERSCHWUNDEN (Band #1) beginnt – einem kostenlosen Download mit über 700 fünf Sterne Bewertungen! Männer und Frauen werden am Stadtrand von Seattle tot aufgefunden, vergiftet durch eine mysteriöse Chemikalie. Als ein Muster entdeckt und klar wird, dass es sich um einen verdrehten Serienmörder auf der Jagd handelt, ruft das FBI seine beste Agentin: Spezialagentin Riley Paige. Riley wird gedrängt ihre Arbeit wieder aufzunehmen – aber Riley, die sich erst langsam von den Angriffen auf ihre Familie erholt, zögert. Doch als die Zahl der Opfer zunimmt und die Morde immer ausgefeilter werden, weiß Riley, dass sie keine andere Wahl hat. Der Fall führt Riley tief in die erschütternde Welt von Pflegeheimen, Krankenhäusern, nachlässigen Krankenpflegern und psychotischen Patienten. Als Riley sich tiefer in den Verstand des Mörders begibt, wird ihr bewusst, dass sie den erschreckendsten Mörder von allen jagt: einen, dessen Wahnsinn kein Ende kennt – und der trotzdem schockierend normal erscheint. Ein dunkler Psychothriller, der Herzklopfen bereitet. VERZEHRT ist Band #6 einer fesselnden neuen Serie – mit einem geliebten neuen Charakters – der Sie bis spät in die Nacht wach halten wird. Band #7 in der Riley Paige Serie wird bald erhältlich sein.







V E R Z E H R T



(EIN RILEY PAIGE KRIMI – BAND #6)



B L A K E P I E R C E


Blake Pierce



Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller RILEY PAIGE Krimi Serie, die bisher sechs BГјcher umfasst. Blake Pierce ist auГџerdem die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimi Serie, bestehend aus bisher drei BГјchern; von der AVERY BLACK Krimi Serie, bestehend aus bisher drei BГјchern; und der neuen KERI LOCKE Krimi Serie.

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi- und Thriller-Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com (http://www.blakepierceauthor.com) und bleiben Sie in Kontakt!



Copyright © 2016 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E–Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagsbild GongTo, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com


BГњCHER VON BLAKE PIERCE



RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)



MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)



AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TГ–TEN (Band #1)

GRUND ZU FLГњCHTEN (Band #2)

GRUND ZU VERSTECKEN (Band #3)



KERI LOCKE KRIMI SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)


Inhalt



PROLOG (#u9a051866-8493-5367-b579-f255a8fae1d3)

KAPITEL EINS (#ud8207ab8-a148-525d-b291-cbeaf9621d53)

KAPITEL ZWEI (#u0f320d96-372f-5522-8237-c3161e210ab1)

KAPITEL DREI (#u1a2fc773-0270-5f6a-b972-dcdbf678a6ca)

KAPITEL VIER (#u5d41d5c8-1f4c-592a-8873-b2ffc2d12a8e)

KAPITEL FГњNF (#ub8ef3914-a1e9-5a3a-b70f-f63d4d2c7a5b)

KAPITEL SECHS (#u37e9ec8d-dfaf-5682-82da-4f3b66a3f1a6)

KAPITEL SIEBEN (#u17d5a829-7f29-5e88-bb58-b1ed74c7bdd2)

KAPITEL ACHT (#ufe35c5c7-e9be-5f1c-b7bf-2d32f6e094ed)

KAPITEL NEUN (#udb0050ac-7809-559e-a78e-7101a133a66c)

KAPITEL ZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ELF (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWГ–LF (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL FГњNFZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL FГњNFUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL SECHSUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDVIERZIG (#litres_trial_promo)

EPILOG (#litres_trial_promo)




PROLOG


Die Physiotherapeutin lächelte ihren Patienten, Cody Woods, freundlich an, als sie den Stromschalter der Maschine betätigte.

"Ich denke, das ist genug für heute", sagte sie, während sein Bein langsam aufhörte sich zu bewegen.

Die Maschine hatte langsam, aber stetig sein Bein fГјr mehrere Stunden bewegt, um ihm bei der Genesung nach seiner Knieoperation zu helfen.

"Ich hatte fast vergessen, dass sie noch lief, Hallie", lachte Cody leise.

Sie spürte einen bitter-süßen Stich. Sie mochte den Namen – Hallie. Es war der Name, den sie nutze, wenn sie hier im Signet Rehabilitationszentrum als freischaffende Physiotherapeutin arbeitete.

Es war fast schade, dass Hallie Stillians morgen verschwinden würde, als hätte es sie nie gegeben.

Aber das war nun einmal der Lauf der Dinge.

Und auГџerdem hatte sie noch andere Namen, die sie ebenso gerne mochte.

Hallie nahm die Kontinuierliche-Passive-Bewegungsmaschine von dem Bett und stellte sie auf den Boden. Dann streckte sie behutsam Codys Bein wieder aus und deckte ihn zu.

Sie strich über Codys Haar – eine intime Geste, von der sie wusste, dass die meisten Therapeuten sie vermeiden würden. Aber sie tat so etwas häufiger und hatte nicht einen Patienten, dem es etwas ausmachte. Sie wusste, dass sie eine gewisse Wärme und Mitgefühl ausstrahlte – und vor allem anderen, vollkommene Aufrichtigkeit. Eine kleine, unschuldige Berührung war angemessen, wenn sie von ihr kam. Niemand hatte sie je missverstanden.

"Wie ist der Schmerz?", erkundigte sie sich.

Cody hatte nach der Operation eine ungewöhnliche Schwellung und Entzündung gehabt. Deshalb war er drei weitere Tage dabehalten worden und war noch nicht wieder zu Hause. Das war außerdem der Grund, weshalb Hallie gerufen worden war, um mit ihm zu arbeiten. Die Mitarbeiter des Zentrums kannten Hallies Arbeit gut. Sie mochten sie, ebenso wie die Patienten sie mochten, also wurde Hallie oft in solchen Fällen um Hilfe gebeten.

"Der Schmerz?", fragte Cody. "Den hatte ich fast vergessen. Ihre Stimme hat ihn verscheucht."

Hallie war geschmeichelt, aber nicht überrascht. Sie hatte ihm ein Buch vorgelesen, während die Maschine vor sich hin lief – einen Spionagethriller. Sie wusste, dass ihre Stimme eine beruhigende Wirkung hatte – fast wie ein Narkosemittel. Es machte keinen Unterschied, ob sie Dickens las oder einen Schundroman oder einfach nur die Zeitung. Patienten brauchten kaum Schmerzmittel, wenn sie sich um sie kümmerte; der Klang ihrer Stimme war oft genug.

"Stimmt es, dass ich morgen nach Hause kann?", fragte Cody.

Hallie zögerte eine Millisekunde. Sie konnte nicht vollkommen aufrichtig sein. Sie war sich nicht sicher, wie ihr Patient sich am nächsten Tag fühlen würde.

"Das haben Sie mir gesagt", antwortete sie daher. "Wie fühlen Sie sich, das zu hören?"

Ein trauriger Ausdruck huschte Гјber Codys Gesicht.

"Ich weiГџ es nicht", sagte er. "In drei Wochen machen sie mein anderes Knie. Aber Sie werden nicht hier sein, um mir dabei zu helfen."

Hallie nahm seine Hand und drückte sie sanft. Es tat ihr leid, dass er sich so fühlte. Seit er in ihrer Pflege war, hatte sie ihm eine lange Geschichte über ihr angebliches Leben erzählt – eine recht langweilige Geschichte, dachte sie, aber er schien davon verzaubert zu sein.

Schließlich hatte sie ihm erklärt, dass ihr Mann, Rupert, als Wirtschaftsprüfer in den Ruhestand treten würde. Ihr jüngerer Sohn, James, war in Hollywood und versuchte seinen Durchbruch als Drehbruchautor zu schaffen. Ihr ältester Sohn, Wendell, war hier in Seattle und unterrichtete Linguistik an der Universität Washington. Jetzt, nachdem die Kinder erwachsen und aus dem Haus waren, wollten sie und Rupert in ein bezauberndes kleines Dorf in Mexiko ziehen, wo sie ihren Ruhestand verbringen sollten. Es würde morgen losgehen.

Was für eine schöne Geschichte, dachte sie.

Auch, wenn nichts davon stimmte.

Sie lebte zu Hause, alleine.

Ganz alleine.

"Schauen Sie sich das an, der Tee ist ganz kalt geworden", sagte sie. "Den wärme ich schnell für Sie auf."

Cody lächelte und sagte, "Ja, danke. Das wäre nett. Und machen Sie sich auch welchen. Die Teekanne steht gleich da auf dem Schrank."

Hallie lächelte und erwiderte, "Natürlich", genau wie sie es jedes Mal taten. Sie stand auf, nahm Codys Tasse mit kaltem Tee und brachte sie zu dem Schrank.

Aber diesmal griff sie in ihre Handtasche, die neben der Mikrowelle stand. Sie nahm eine kleine Medikamentendose heraus und leerte den Inhalt in Codys Tee. Sie machte es schnell, heimlich, mit einer geГјbten Bewegung, die ihr vertraut war, und sie war sich sicher, dass er es nicht gesehen hatte. Trotzdem schlug ihr Herz ein wenig schneller.

Dann schГјttete sie sich selbst auch einen Tee ein und stellte beide Tassen in die Mikrowelle.

Ich darf nicht durcheinander kommen, ermahnte sie sich selbst. Die gelbe Tasse fГјr Cody, die blaue fГјr mich.

Während die Mikrowelle summte, setzte sie sich wieder neben Cody und sah ihn wortlos an.

Er hat ein nettes Gesicht, dachte sie. Aber er hatte ihr von seinem eigenen Leben erzählt und sie wusste, dass er traurig war. Er war schon lange traurig. Er war während seiner Highschool-Zeit ein dekorierter Athlet gewesen. Aber er hatte seine Knie während eines Football Spiels verletzt, was seine Hoffnungen auf eine Profikarriere vernichtet hatte. Die gleichen Verletzungen hatten schließlich dazu geführt, dass er neue Kniegelenke benötigte.

Sein Leben war seither von Tragödie gezeichnet. Seine erste Frau war bei einem Autounfall gestorben und seine zweite Frau hatte ihn für einen anderen Mann verlassen. Er hatte zwei erwachsene Kinder, aber sie sprachen nicht mehr mit ihm. Vor einigen Jahren hatte er außerdem einen Schlaganfall gehabt.

Sie bewunderte ihn für die Tatsache, dass er nicht im Mindesten verbittert schien. Tatsächlich war er voller Hoffnung und Optimismus für die Zukunft.

Sie dachte, dass er sГјГџ, aber naiv war.

Sie wusste, dass sein Leben sich nicht zum Besseren wenden wГјrde.

Dafür war es zu spät.

Das Piepen der Mikrowelle riss sie aus den Gedanken. Cody sah sie aus freundlichen, erwartungsvollen Augen an.

Sie tätschelte seine Hand, stand auf und ging zur Mikrowelle. Sie nahm die beiden Tassen heraus, die jetzt heiß waren.

Sie dachte noch einmal:

Gelb fГјr Cody, blau fГјr mich.

Es war wichtig, sie nicht zu verwechseln.

Sie nippten beide schweigend an ihrem Tee. FГјr Hallie waren diese Momente Zeiten der stillen Kameradschaft. Es stimmte sie ein wenig traurig, dass es sie nicht mehr geben wГјrde. In wenigen Tagen wГјrde dieser Patient sie nicht mehr brauchen.

Bald wГјrde Cody einschlafen. Sie hatte ein Pulver mit ausreichend Schlafmitteln in seinen Tee getan, um dafГјr zu sorgen.

Hallie stand auf und suchte ihre Sachen zusammen.

Und dann begann sie leise zu singen, ein Lied, das sie kannte, solange sie sich erinnern konnte.



Weit weg von zu Haus'

So weit weg von zu Haus'–

Dieses kleine Baby ist weit weg von zu Haus'.

Du sehnst dich danach

Jeden Tag

Zu traurig zu lachen, zu traurig zu spielen.

Kein Grund zu weinen

Träum' lang und tief.

Гњbergib dich dem Lied des Schlafs.

Kein Seufzen mehr,

SchlieГџ' nur deine Augen

Und du wirst im Traum nach Hause gehen.



Seine Augen schlossen sich, sie strich ihm liebevoll das Haar aus dem Gesicht.

Dann, mit einem sanften Kuss auf die Stirn, stand sie auf und ging.




KAPITEL EINS


FBI Agentin Riley Paige ging besorgt durch die Gangway am Phoenix International Airport. Sie hatte während dem Flug von Washington aus kaum stillsitzen können. Jilly, ein Mädchen, das Riley besonders am Herzen lag, war verschwunden. Sie war entschlossen, dem Mädchen zu helfen und dachte sogar darüber nach, sie zu adoptieren.

Als Riley durch den Ausgang des Gates eilte, sah sie auf und war geschockt, eben jenes Mädchen vor sich stehen zu sehen, FBI Agent Garrett Holbrook von der Außenstelle in Phoenix gleich neben ihr.

Die dreizehnjährige Jilly Scarlatti stand neben Garret und wartete ganz offensichtlich auf sie.

Riley war verwirrt. Garrett hatte sie angerufen und ihr erzählt, dass Jilly weggelaufen war und nicht zu finden sei.

Doch noch bevor Riley eine Frage stellen konnte, warf Jilly sich ihr weinend in die Arme.

"Oh Riley, es tut mir so leid. Es tut mir so so leid. Ich mache das nie wieder."

Riley versuchte Jilly zu trösten und sah Garrett fragend an. Garretts Schwester, Bonnie Flaxman, hatte versucht, Jilly als Pflegekind aufzunehmen. Aber Jilly hatte rebelliert und war weggelaufen.

Garrett lächelte leicht – ein ungewöhnlicher Anblick des sonst so ernsten Mannes.

"Sie hat Bonnie angerufen, kurz nachdem Sie Fredericksburg verlassen hatten", sagte er. "Sie hat gesagt, dass sie sich nur noch einmal verabschieden wollte, endgültig. Aber dann hat Bonnie ihr erzählt, dass Sie auf dem Weg hierher sind, um sie aufzunehmen. Sie hat sich so gefreut, dass sie uns gesagt hat, wo wir sie abholen können."

Er sah Riley an.

"Dass Sie den ganzen Weg hierher geflogen sind, hat sie gerettet", schloss er.

Riley stand mit der weinenden Jilly im Arm da und kam sich seltsam unbeholfen vor.

Jilly flüsterte etwas, das Riley nicht hören konnte

"Was?", fragte Riley.

Jilly zog ihr Gesicht ein wenig zurück und sah Riley in die Augen, ihre eigenen, ernsten braunen Augen mit Tränen gefüllt.

"Mom?", sagte sie mit erstickter, schГјchterner Stimme. "Kann ich dich Mom nennen?"

Riley zog sie noch näher an sich, überwältigt von der Flut von Gefühlen.

"NatГјrlich", sagte Riley.

Dann wandte sie sich an Garrett. "Vielen Dank fГјr alles, was Sie getan haben."

"Ich bin froh, dass ich helfen konnte, zumindest ein wenig", erwiderte er. "Brauchen Sie einen Platz zum Übernachten, während Sie hier sind?"

"Nein. Jetzt, wo sie gefunden ist, ist das nicht mehr nötig. Wir nehmen den nächsten Flug zurück."

Garrett schГјttelte ihr die Hand. "Ich wГјnsche Ihnen alles Gute."

Dann ging er.

Riley sah auf den Teenager hinunter, der noch immer an ihr hing. Sie war gleichzeitig erleichtert, dass sie sie gefunden hatte, und besorgt, weil sie nicht wusste, was die Zukunft ihnen bringen wГјrde.

"Lass uns etwas essen gehen", sagte sie zu Jilly.



*



Es schneite leicht, während sie vom Reagan Washington National Airport nach Hause fuhren. Jilly starrte schweigend aus dem Fenster. Ihr Schweigen war ein großer Umschwung nach dem mehr als vierstündigen Flug von Phoenix. Jilly hatte nicht aufhören können zu reden. Sie war noch nie in einem Flugzeug gewesen und alles weckte ihre Neugier.

Warum ist sie jetzt so ruhig? fragte Riley sich.

Dann wurde ihr bewusst, dass Schnee ein ungewöhnlicher Anblick sein musste, für ein Mädchen, das sein ganzes Leben in Arizona verbracht hatte.

"Hast du schon einmal Schnee gesehen?", fragte Riley.

"Nur im Fernsehen."

"Gefällt es dir?", sagte Riley.

Jilly antwortete nicht, was in Riley wieder ein unbehagliches Gefühl auslöste. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie Jilly gesehen hatte. Das Mädchen war vor einem gewalttätigen Vater davongelaufen. Aus schierer Verzweiflung hatte sie sich entschieden, Prostituierte zu werden. Sie war zu einem Rastplatz gegangen, der bekannt dafür war, dass man dort Prostituierte aufgabeln konnte – "Truckerhuren" wurden sie genannt.

Riley war dort gewesen, um eine Serie von Morden an Prostituierten aufzuklären. Sie hatte Jilly zufällig in einer Fahrerkabine gefunden, wo sie darauf gewartet hatte, dass der Fahrer zurückkommt, um sich an ihn zu verkaufen.

Riley hatte Jilly zu einer Notunterkunft gebracht und war mit ihr in Kontakt geblieben. Garretts Schwester hatte Jilly als Pflegekind aufgenommen, aber schlieГџlich war Jilly wieder weggelaufen.

Da hatte Riley beschlossen, Jilly selber aufzunehmen.

Aber jetzt fing sie an sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Sie musste sich schon um ihre eigene fГјnfzehn Jahre alte Tochter, April, kГјmmern. Die konnte alleine schon eine Handvoll sein. Sie hatten zusammen einige traumatische Erfahrungen durchgestanden, seit Rileys Ehe zerbrochen war.

Und was wusste sie wirklich über Jilly? Hatte Riley eine Ahnung, wie tief die seelischen Verletzungen des Mädchens waren? War sie überhaupt dazu in der Lage, mit den Herausforderungen fertig zu werden, die Jilly möglicherweise mit sich brachte? Und auch wenn April zugestimmt hatte, Jilly zu sich nach Hause zu holen, würden die beiden Mädchen zurechtkommen?

Plötzlich sprach Jilly.

"Wo werde ich schlafen?"

Riley war erleichtert, Jillys Stimme zu hören.

"Du hast dein eigenes Zimmer", sagte sie. "Es ist klein, aber ich denke, dass es genau das Richtige für dich sein könnte."

Jilly schwieg wieder einen Moment.

Dann sagte sie, "Gehörte es jemand anderem?"

Jilly klang besorgt.

"Nicht, seit wir dort leben", erklärte Riley. "Ich habe versucht, es als Büro zu nutzen, aber es war zu groß. Also habe ich das Büro in mein Schlafzimmer gebracht. April und ich haben ein Bett und eine Kommode gekauft, aber wenn wir Zeit haben, kannst du dir ein paar Poster und Bettwäsche aussuchen, die dir gefällt.

"Mein eigenes Zimmer", sagte Jilly.

Riley kam es vor, als klänge sie eher zögerlich als glücklich.

"Wo schläft April?", fragte Jilly.

Riley wollte Jilly fast sagen, dass sie einfach warten sollte, bis sie zu Hause waren, dann würde sie es ja sehen. Aber das Mädchen klang, als bräuchte sie umgehend ein wenig Beruhigung und Bestätigung.

"April hat ihr eigenes Zimmer", sagte Riley. "Du und April teilt euch allerdings ein Badezimmer. Ich habe mein eigenes."

"Wer putzt? Wer kocht?", fragte Jilly. Dann fГјgte sie besorgt hinzu, "Ich bin kein besonders guter Koch."

"Unsere Haushälterin, Gabriela, kümmert sich um alles. Sie kommt aus Guatemala. Sie lebt bei uns, in ihrer eigenen kleinen Wohnung. Du triffst sie bald. Sie kümmert sich um dich, wenn ich nicht da bin."

Wieder folgte ein Schweigen.

Dann fragte Jilly, "Wird Gabriela mich schlagen?"

Diese Frage machte Riley sprachlos.

"Nein. NatГјrlich nicht! Wie kommst du denn darauf?"

Jilly antwortete nicht. Riley versuchte zu verstehen, was sie meinte.

Sie versuchte sich zu sagen, dass sie nicht Гјberrascht sein sollte. Sie erinnerte sich daran, was Jilly ihr gesagt hatte, als sie sie in der Fahrerkabine gefunden und ihr gesagt hatte, dass sie nach Hause gehen sollte.

"Ich gehe nicht nach Hause. Mein Vater wird mich schlagen, wenn ich zurГјckgehe."

Das Jugendamt in Phoenix hatte Jilly dem Sorgerecht des Vaters entzogen. Riley wusste, dass Jillys Mutter vor langer Zeit verschwunden war. Jilly hatte irgendwo einen Bruder, aber niemand hatte von ihm gehört.

Es brach Riley das Herz, als ihr klar wurde, dass sie eine ähnliche Behandlung in ihrem neuen Zuhause erwartete. Es schien, als könne sich das Mädchen kaum ein besseres Leben vorstellen.

"Niemand wird dich schlagen, Jilly", sagte Riley, mit leicht zitternder Stimme. "Nie wieder. Wir werden uns gut um dich kГјmmern. Verstehst du das?"

Wieder antwortete Jilly nicht. Riley wГјnschte sich, sie wГјrde sagen, dass sie sie verstand und auch glaubte, was Riley ihr sagte. Stattdessen wechselte Jilly das Thema.

"Ich mag dein Auto", sagte sie. "Kann ich lernen zu fahren?"

"Wenn du Г¤lter bist, sicher", sagte Riley. "Jetzt lass uns dich erst einmal nach Hause bringen."



*



Ein wenig Schnee fiel, als Riley vor ihrem Stadthaus hielt und sie mit Jilly ausstieg. Jillys Gesicht zuckte kurz, als eine Schneeflocke ihre Haut traf. Ihr schien dieses neue Gefühl nicht zu gefallen. Sie zitterte vor Kälte.

Wir mГјssen ihr sofort warme Kleidung besorgen, dachte Riley.

Auf halbem Wege zur HaustГјr hielt Jilly inne. Sie starrte auf das Haus.

"Ich kann das nicht", sagte sie.

"Warum nicht?"

Jilly schien keine Worte zu finden. Sie sah aus, wie ein verängstigtes Tier. Riley nahm an, dass der Gedanke sie überwältigte, an einem so schönen Ort zu leben.

"Ich werde April im Weg sein oder nicht?", sagte Jilly. "Ich meine, es ist ihr Badezimmer."

Sie schien nach Entschuldigen zu suchen, nach GrГјnden, warum es nicht funktionieren wГјrde.

"Du bist April nicht im Weg", sagte Riley. "Jetzt komm rein."

Riley öffnete die Tür. Drinnen warteten April und Rileys Exmann Ryan. Sie lächelten sie freundlich an.

April eilte direkt auf Jilly zu und nahm sie in die Arme.

"Ich bin April", sagte sie. "Ich bin so froh, dass du hier bist. Es wird dir bestimmt gefallen."

Riley war von dem Unterschied zwischen den beiden Mädchen überrascht. Sie hatte immer gedacht, April wäre recht dünn und schlaksig. Aber neben Jilly, die im Vergleich dünn aussah, wirkte sie regelrecht robust. Riley nahm an, dass Jilly mehr als einmal in ihrem Leben gehungert hatte.

Es gibt so viel, was ich nicht weiГџ, dachte Riley.

Jilly lächelte nervös, als Ryan sich vorstellte und sie kurz umarmte.

Plötzlich kam Gabriela herein und stellte sich ebenfalls mit einem breiten Lächeln vor.

"Willkommen in der Familie!", rief Gabriela und gab Jilly eine Umarmung.

Riley bemerkte, dass die Haut der guatemalischen Frau nur ein wenig dunkler war, als Jillys olivfarbener Teint.

"Vente!", sagte Gabriela und nahm Jilly bei der Hand. "Lass uns nach oben gehen. Ich zeige dir dein Zimmer!"

Aber Jilly zog ihr die Hand weg und stand zitternd vor ihr. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie setzte sich auf die Stufen und weinte. April setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

"Jilly, was ist los?", fragte April.

Jilly schГјttelte traurig den Kopf.

"Ich weiß es nicht", schluchzte sie. "Es ist einfach … ich weiß nicht. Es ist zu viel."

April lächelte und streichelte ihr leicht über den Rücken.

"Ich weiГџ, ich weiГџ", sagte sie. "Komm mit nach oben. Du fГјhlst dich bestimmt bald wie zu Hause."

Jilly stand gehorsam auf und folgte April nach oben. Riley freute sich, dass ihre Tochter die Situation so gut gelöst hatte. Natürlich hatte April immer gesagt, dass sie eine kleine Schwester wollte. Aber April hatte schwierige Jahre durchgemacht und war von Verbrechern traumatisiert worden, die sich an Riley rächen wollten.

Vielleicht, dachte Riley hoffnungsvoll, versteht April Jilly besser, als ich es kann.

Gabriela sah den beiden Mädchen mitfühlend nach.

"ВЎPobrecita!", sagte sie. "Ich hoffe, dass alles gut wird."

Gabriela ging wieder nach unten und lieГџ Riley und Ryan alleine. Ryan blickte geistesabwesend die Stufen nach oben.

Ich hoffe, dass er es sich nicht anders Гјberlegt hat, dachte Riley. Ich werde seine UnterstГјtzung brauchen.

Zwischen ihnen war viel passiert. Während der letzten Jahre ihrer Ehe war er ein untreuer Ehemann und ein distanzierter Vater gewesen. Sie hatten sich getrennt und geschieden. Aber Ryan schien sich in letzter Zeit verändert zu haben und sie verbrachten wieder mehr Zeit miteinander.

Sie hatten Гјber die Herausforderung gesprochen, Jilly in ihre Leben zu bringen. Ryan war begeistert von der Idee gewesen.

"Ist es immer noch okay fГјr dich?", fragte Riley ihn.

Ryan sah sie an und sagte, "Ja. Ich kann allerdings sehen, dass es nicht einfach werden wird."

Riley nickte. Dann folgte eine peinliche Pause.

"Ich denke, ich sollte besser gehen", sagte Ryan.

Riley war erleichtert. Sie kГјsste ihn flГјchtig, er zog seinen Mantel an und ging. Riley goss sich einen Drink ein und saГџ dann alleine im Wohnzimmer.

Wo habe ich uns da nur hingefГјhrt? fragte sie sich.

Sie hoffte, dass ihre guten Absichten nicht wieder ihre Familie auseinander reiГџen wГјrde.




KAPITEL ZWEI


Riley wachte am nächsten Morgen mit ängstlicher Erwartung auf. Dies würde der erste Tag von Jilly in ihrem neuen Zuhause werden. Sie hatten viel zu tun und Riley hoffte, dass es keine Probleme geben würde.

Letzte Nacht war ihr klar geworden, dass Jillys Übergang in ein neues Leben harte Arbeit für sie alle werden würde. Aber April hatte sich eingebracht und Jilly geholfen, sich einzuleben. Sie hatten zusammen ausgesucht, was Jilly heute anziehen würde – nicht aus der mageren Auswahl, die sie in einer Supermarkttüte mitgebracht hatte, sondern von den neuen Sachen, die Riley und April ihr gekauft hatten.

Jilly und April waren schlieГџlich schlafen gegangen.

Riley auch, aber ihr Schlaf war unruhig und rastlos gewesen.

Jetzt stand sie auf, zog sich an, und ging direkt in die KГјche, wo April Gabriela half, FrГјhstГјck zu machen.

"Wo ist Jilly?", fragte Riley.

"Sie ist noch nicht aufgestanden", sagte April.

Rileys Sorge nahm zu.

Sie ging zum Aufgang der Treppe und rief, "Jilly, es ist Zeit aufzustehen."

Sie hörte keine Antwort. Sie wurde von einer Welle der Panik gefasst. War Jilly in der Nacht weggelaufen?

"Jilly, hast du mich gehört?", rief sie wieder. "Wir müssen dich heute Morgen für die Schule anmelden."

"Ich komme", rief Jilly zurГјck.

Riley atmete erleichtert auf. Jilly klang mГјrrisch, aber zumindest war sie hier und kooperierte.

In den vergangenen Jahren hatte Riley diesen Ton mehr als einmal von April gehört. April schien es im Großen und Ganzen hinter sich zu haben, fiel aber von Zeit zu Zeit zurück. Riley fragte sich, ob sie wirklich dafür geeignet war, Teenager aufzuziehen.

Da klopfte es an die HaustГјr. Als Riley sie Г¶ffnete, stand ihr Nachbar, Blaine Hildreth, davor.

Riley war überrascht ihn zu sehen, aber freute sich. Er war einige Jahre jünger als sie, ein charmanter und attraktiver Mann, dem ein Restaurant in der Stadt gehörte. Tatsächliche hatte sie eine unmissverständliche Anziehung zwischen sich gespürt, was die Frage nach einer möglichen Versöhnung mit Ryan verkomplizierte. Vor allem aber war Blaine ein wundervoller Nachbar und ihre Töchter waren beste Freunde.

"Hallo Riley", sagte er. "Ich hoffe, es ist nicht zu frГјh."

"Ganz und gar nicht", lächelte Riley. "Was gibt es?"

Blaine sah sie mit einem traurigen Lächeln an.

"Ich dachte einfach, ich komme vorbei, um mich zu verabschieden", sagte er.

Riley starrte ihn Гјberrascht an.

"Was meinst du?", fragte sie.

Er zögerte und bevor er antworten konnte, sah Riley den riesigen Umzugslaster, der vor seinem Haus stand. Umzugshelfer trugen Möbel aus Blaines Haus in den Laster.

Riley blieb der Mund offen stehen.

"Ihr zieht aus?", fragte sie.

"Es schien mir eine gute Idee zu sein", sagte Blaine.

Riley wäre fast eine "Warum?", herausgerutscht.

Aber es war einfach zu erraten. Neben Riley zu wohnen hatte sich als gefährlich und erschreckend herausgestellt, sowohl für Blaine, als auch für seine Tochter, Crystal. Der Verband, der immer noch sein Gesicht zierte, war eine harsche Erinnerung daran. Blaine war bei dem Versuch, April vor einem Mörder zu beschützen, schwer verletzt worden.

"Es ist nicht, was du wahrscheinlich denkst", sagte Blaine.

Aber Riley konnte es an seinem Gesicht sehen – es war genau das, was sie dachte.

Er fuhr fort, "Es hat sich einfach herausgestellt, dass das Haus hier nicht sehr praktisch ist. Es ist zu weit vom Restaurant weg. Ich habe ein schönes Haus in der Nähe gefunden. Ich bin sicher, das verstehst du."

Riley war zu verwirrt und aus der Fassung gebracht, um zu antworten. Erinnerungen an den schrecklichen Zwischenfall kamen zurГјck.

Sie hatte im Norden von New York an einem Fall gearbeitet, als sie erfahren hatte, dass ein brutaler Mörder auf freiem Fuß war. Sein Name war Orin Rhodes. Sechzehn Jahre zuvor hatte Riley seine Freundin in einem Schusswechsel getötet und ihn ins Gefängnis gebracht. Als Rhodes schließlich aus Sing Sing entlassen wurde, hatte er Riley und ihrer Familie Rache geschworen.

Bevor Riley es nach Hause schaffte, war Rhodes in ihr Zuhause eingedrungen und hatte April und Gabriela angegriffen. Nebenan hatte Blaine den Kampf gehört und war ihnen zur Hilfe geeilt. Er hatte wahrscheinlich Aprils Leben gerettet. Aber er war dabei schwer verletzt worden.

Riley hatte ihn zweimal im Krankenhaus besucht. Das erste Mal war sie entsetzt gewesen. Er hatte, mit einer Infusion im Arm und einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, bewusstlos auf der Intensivstation gelegen. Riley hatte sich bittere VorwГјrfe gemacht.

Aber das nächste Mal war deutlich erfreulicher gewesen. Er war wach und fröhlich gewesen und hatte sogar über seinen Übermut gescherzt.

Vor allem aber erinnerte sie sich an das, was er gesagt hatte …

"Es gibt wenig, was ich nicht fГјr dich und April tun wГјrde."

Offensichtlich hatte er es sich anders überlegt. Die Gefahr neben Riley zu wohnen, war zu viel für ihn und er ging weg. Sie wusste nicht, ob sie verletzt sein sollte oder sich schuldig fühlen. Sie war ohne Zweifel enttäuscht.

Rileys Gedanken wurden durch Aprils Stimme unterbrochen.

"Oh mein Gott! Blaine, ziehen du und Crystal weg? Ist Crystal noch da?"

Blaine nickte.

"Ich muss zu ihr gehen und mich verabschieden", rief April.

April rannte aus der TГјr nach nebenan.

Riley kämpfte immer noch mit ihren Gefühlen.

"Es tut mir leid", sagte sie.

"Was tut dir leid?", fragte Blaine.

"Du weiГџt schon."

Blaine nickte. "Es war nicht deine Schuld, Riley", sagte er leise.

Riley und Blaine standen sich einen Moment schweigend gegenüber. Dann zwang Blaine sich zu einem Lächeln.

"Hey, es ist ja nicht so, als ob wir die Stadt verlassen", sagte er. "Wir können uns treffen, wann wir wollen. Genau wie die Mädchen. Schließlich gehen sie immer noch auf die gleiche Schule. Es wird sein, als hätte sich nichts geändert."

Ein bitterer Geschmack breitete sich in Rileys Mund aus.

Das stimmt nicht, dachte sie. Alles hat sich geändert.

Die Enttäuschung machte langsam Ärger Platz. Riley wusste, dass es falsch war, wütend zu sein. Sie hatte kein Recht. Sie wusste nicht, warum sie so fühlte. Alles was sie wusste war, dass sie es nicht verhindern konnte.

Und was sollten sie jetzt tun?

Sich umarmen? Die Hände schütteln?

Sie spГјrte, dass Blaine sich Г¤hnlich fГјhlte.

Die schafften es, sich kurz angebunden zu verabschieden. Blaine ging zurГјck zu seinem Haus und Riley in die KГјche. Sie fand Jilly beim FrГјhstГјck. Gabriela hatte Riley ebenfalls FrГјhstГјck auf den Tisch gestellt, also setzte sie sich und aГџ zusammen mit Jilly.

"Also, freust du dich auf heute?"

Rileys Frage war aus ihrem Mund, bevor sie bemerkte, wie lahm und ungelenk es klang.

"Ich schätze schon", sagte Jilly, während sie mit der Gabel in ihrem Pfannkuchen stocherte. Sie sah nicht einmal zu Riley auf.



*



Später gingen Riley und Jilly durch den Eingang der Brody Middle School. Das Gebäude war attraktiv, mit hellen Schließfächern, die die Flure säumten und von Studenten gemalten Bildern an den Wänden.

Ein freundlicher und höflicher Schüler bot ihnen Hilfe an und wies sie in die Richtung des Direktorats. Riley dankte ihm und ging den Flur hinunter, mit Jillys Anmeldeunterlagen in der einen und ihrer Hand in der anderen Hand.

Die Anmeldung in der Schulbehörde hatten sie schon hinter sich. Sie hatte alle Unterlagen mitgenommen, die von dem Jugendamt in Phoenix zusammengestellt worden waren – Impfunterlagen, Schulnachweise, Jillys Geburtsurkunde, und eine Bescheinigung, dass Riley Jillys Vormund war. Jillys Vater war das Sorgerecht entzogen worden, auch wenn er angedroht hatte, dagegen vorzugehen. Riley wusste, dass der Weg bis zur Adoption nicht schnell und einfach sein würde.

Jilly hielt Rileys Hand fest gedrückt. Riley spürte, dass sich das Mädchen äußerst unwohl fühlte. Es war nicht schwer sich vorzustellen, warum. So hart es auch in Phoenix gewesen war, es war das einzige Leben, das Jilly gekannt hatte.

"Warum kann ich nicht mit April zur Schule gehen?", fragte Jilly.

"Nächstes Jahr gehst du zur gleichen Highschool", sagte Riley. "Erst musst du die achte Klasse abschließen."

Sie fanden das Büro und Riley zeigte die Unterlagen der Sekretärin.

"Wir möchten gerne mit jemandem sprechen, um Jilly in der Schule anzumelden", sagte Riley.

"Da müssen Sie mit einem Vertrauenslehrer sprechen", sagte die Sekretärin mit einem Lächeln. "Kommen Sie hier entlang."

Das könnten wir beide wohl gut gebrauchen, dachte Riley.

Die Vertrauenslehrerin war eine Frau Mitte Dreißig mit einem braunen Lockenkopf. Ihr Name war Wanda Lewis und ihr Lächeln so warm, wie es nur sein konnte. Riley dachte, dass sie eine wirkliche Hilfe sein könnte. Sicherlich hatte eine Frau in diesem Beruf schon mit anderen Studenten aus schwierigen Familien zu tun gehabt.

Ms. Lewis führte sie durch die Schule. Die Bücherei war ordentlich und aufgeräumt und sowohl mit Büchern, als auch mit Computern gut ausgestattet. In der Sporthalle spielten Mädchen fröhlich Basketball. Die Cafeteria war sauber und glänzend. Alles sah für Riley einfach wundervoll aus.

Ms. Lewis stellte Jilly konstant Fragen Гјber ihre Interessen und Гјber ihre frГјhere Schule. Aber Jilly antwortete kaum auf die Fragen von Ms. Lewis und stellte auch keine eigenen. Ihr Interesse schien ein wenig zuzunehmen, als sie zum Kunstraum kamen. Aber sobald sie weitergingen, wurde sie wieder ruhiger und in sich gekehrt.

Riley fragte sich, was in dem Kopf des Mädchens vor sich ging. Sie wusste, dass ihre Noten zwar in der letzten Zeit eher schlecht, aber vorher sehr gut gewesen waren. Aber wenn sie ehrlich war, dann wusste Riley kaum etwas über Jillys frühere Schulerfahrungen.

Vielleicht hasste sie die Schule sogar.

Diese neue Schule musste einschГјchternd sein, wo Jilly niemanden kannte. Und natГјrlich wГјrde es nicht einfach werden, sich in das Material einzufinden, in den wenigen Wochen, die bis zum Ende des Schuljahres blieben.

Am Ende der Tour schaffte Riley es, Jilly dazu zu bringen, sich bei Ms. Lewis für die Führung zu bedanken. Sie einigten sich, dass Jilly am nächsten Tag mit der Schule anfangen würde. Dann gingen Riley und Jilly hinaus in die kalte Januarluft. Eine dünne Schicht des Schnees vom Vortag lag auf dem Parkplatz.

"Also, was denkst du Гјber die neue Schule?", fragte Riley.

"Ist okay", antwortete Jilly.

Riley konnte nicht sagen, ob Jilly mürrisch oder einfach nur überwältigt von all den Veränderungen war, denen sie gegenüberstand. Als sie sich dem Auto näherten, bemerkte sie, dass Jilly stark zitterte und mit den Zähnen klapperte. Sie trug eine dicke Jacke von April, aber die Kälte machte ihr wirklich zu schaffen.

Sie stiegen ins Auto und Riley stellte den Motor und die Heizung an. Doch selbst als das Auto wärmer wurde, zitterte Jilly noch immer.

Riley fuhr noch nicht los. Es war Zeit herauszufinden, was das Mädchen so beschäftigte.

"Was ist los?", fragte sie. "Gibt es etwas an der neuen Schule, das dich bedrГјckt?"

"Es ist nicht die Schule", sagte Jilly mit zitternder Stimme. "Es ist die Kälte."

"Ich nehme an, es wird nicht kalt in Phoenix", sagte Riley. "Das muss seltsam fГјr dich sein."

Jillys Augen füllten sich mit Tränen.

"Es wird manchmal kalt", sagte sie. "Vor allem nachts."

"Bitte sag mir was los ist", bat Riley.

Tränen liefen Jilly über die Wangen. Sie sprach mit leiser, erstickter Stimme.

"Die Kälte erinnert mich an …"

Sie schwieg wieder. Riley wartete geduldig darauf, dass sie weitersprach.

"Mein Vater hat mir immer fГјr alles die Schuld gegeben", sagte Jilly. "Er hat mir die Schuld dafГјr gegeben, dass meine Mama weggegangen ist, und mein Bruder auch, und er hat mir auch immer die Schuld dafГјr gegeben, wenn er von einem seiner Jobs gefeuert wurde. Alles was schief ging, war meine Schuld."

Jilly weinte jetzt leise.

"Sprich weiter", bat Riley.

"Eines Nachts hat er mir gesagt, dass er mich los sein will", sagte Jilly. "Er sagte, ich wäre nur ein Klotz am Bein, ich würde ihn zurückhalten, und er hätte genug, wäre fertig mit mir. Er hat mich aus dem Haus geworfen. Er hat die Türen abgeschlossen, sodass ich nicht zurück konnte."

Jilly musste bei der Erinnerung schwer schlucken.

"Nie in meinem Leben ist mir so kalt gewesen", sagte sie. "Nicht einmal hier, in diesem Wetter. Ich habe in einer Grube ein Abwasserrohr gefunden, das groГџ genug war, dass ich hinein kriechen konnte, also habe ich da die Nacht verbracht. Ich hatte solche Angst. Manchmal sind Leute drauГџen vorbeigegangen, aber ich wollte nicht, dass sie mich finden. Sie klangen nicht wie jemand, der mir helfen wГјrde."

Riley schloss die Augen und stellte sich vor, wie das Mädchen sich in dem dunklen Abwasserrohr versteckte. Sie flüsterte, "Und was ist dann passiert?"

Jilly fuhr fort, "Ich habe mich einfach klein gemacht und bin die Nacht dort geblieben. Ich habe nicht wirklich geschlafen. Am nächsten Morgen bin ich zurück nach Hause gegangen, habe geklopft und meinen Vater angebettelt mich wieder reinzulassen. Er hat mich ignoriert, als wäre ich nicht einmal da. Da bin ich zu dem Rastplatz gegangen. Dort war es warm und es gab etwas zu essen. Einige von den Frauen waren nett zu mir und ich dachte ich würde tun, was ich tun muss, um dort zu bleiben. Und das war die Nacht, in der du mich gefunden hast."

Jilly war während ihrer Erzählung ihrer Geschichte ruhiger geworden. Sie schien erleichtert es endlich herauszulassen. Aber jetzt weinte Riley. Sie konnte kaum glauben, was das arme Mädchen durchgemacht hatte. Sie legte ihren Arm um Jilly und drückte sie fest an sich.

"Nie wieder", sagte Riley schluchzend. "Jilly, ich verspreche dir, du wirst dich nie wieder so fГјhlen."

Es war ein großes Versprechen, dabei fühlte Riley sich selbst gerade so klein, schwach und zerbrechlich. Sie hoffte, dass sie es würde halten können.




KAPITEL DREI


Die Frau dachte immer noch an den armen Cody Woods. Sie war sich sicher, dass er mittlerweile tot war. Sie wГјrde vermutlich in der Morgenzeitung darГјber lesen.

So sehr sie ihren heiГџen Tee und das MГјsli auch genoss, auf die Nachrichten zu warten machte sie mГјrrisch.

Wann kommt die Zeitung endlich? fragte sie sich und sah auf die KГјchenuhr.

In letzter Zeit schien die Lieferung immer später zu werden. Natürlich hätte sie diese Probleme nicht, wenn sie ein Online-Abo hätte. Aber sie mochte es nicht, die Nachrichten auf ihrem Computer zu lesen. Sie saß lieber in ihrem gemütlichen Sessel und genoss das altmodische Gefühl der Zeitung in ihrer Hand. Sie mochte sogar die Art, wie die Druckerschwärze manchmal an den Fingern hängen blieb.

Aber die Zeitung war bereits seit fünfzehn Minuten überfällig. Falls es noch später wurde, dann würde sie anrufen und sich beschweren müssen. Sie hasste es, das zu tun. Es hinterließ immer einen bitteren Geschmack im Mund.

Jedenfalls war die Zeitung der einzige Weg, herauszufinden, was mit Cody war. Sie konnte kaum das Signet Rehabilitationszentrum anrufen und nachfragen. Das würde nur Verdacht erregen. Außerdem war sie, soweit es die Mitarbeiter dort betraf, schon mit ihrem Mann in Mexiko, ohne Pläne jemals zurückzukehren.

Oder genauer gesagt, Hallie Stillians war in Mexiko. Es machte sie ein wenig traurig, dass sie nie wieder Hallie Stillians sein wГјrde. Sie hatte den Alias recht lieb gewonnen. Es war so nett von den Mitarbeitern gewesen, sie an ihrem letzten Tag mit einem Kuchen zu Гјberraschen.

Sie lächelte bei der Erinnerung. Der Kuchen war bunt mit Sombreros und einer Nachricht dekoriert gewesen:



Buen Viaje, Hallie und Rupert!



Rupert war der Name ihres imaginären Ehemannes. Sie würde es vermissen über ihn zu reden.

Sie aß ihr Müsli auf und nippte weiter an dem köstlichen, hausgemachten Tee, den sie nach einem alten Familienrezept zubereitet hatte – ein anderes Rezept als das, was sie mit Cody geteilt hatte, und natürlich ohne die besondere Zutat, die sie für ihn hinzugefügt hatte.

Sie begann leise zu singen …



Weit weg von zu Haus'

So weit weg von zu Haus'––

Dieses kleine Baby ist weit weg von zu Haus'.

Du sehnst dich danach

Jeden Tag

Zu traurig zu lachen, zu traurig zu spielen.



Wie sehr Cody dieses Lied gemocht hatte! Genauso wie all ihre anderen Patienten. Und viele weitere Patienten in der Zukunft würden es ebenfalls mögen. Der Gedanke wärmte ihr Herz.

Da hörte sie einen dumpfen Laut vor der Haustüre. Sie eilte hin und sah nach draußen. Auf den kalten Stufen lag die Morgenzeitung. Voller Aufregung hob sie sie auf, lief zurück in die Küche, und öffnete die Seite mit den Sterbeanzeigen.

Da war es, wie erwartet:



SEATTLE — Cody Woods, 49, aus Seattle …



Sie hielt einen Moment inne. Das war seltsam. Sie hätte schwören können, dass er gesagt hatte, er wäre fünfzig. Dann las sie den Rest …



… im South Hills Krankenhaus, Seattle, Wash.; Sutton–Brinks Bestattungsinstitut, Seattle.



Das war alles. Es war knapp, selbst fГјr eine einfache Todesanzeige.

Sie hoffte, dass in den nächsten Tagen ein schöner Nachruf folgen würde. Aber sie sorgte sich, ob es wirklich einen geben würde. Wer sollte ihn schon schreiben?

Er war alleine in der Welt gewesen, zumindest soweit sie wusste. Eine Frau war tot, eine andere hatte ihn verlassen, und seine zwei Kinder sprachen nicht mit ihm. Er hatte ihr gegenüber kaum jemandem erwähnt – Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen.

Wer kГјmmert sich? dachte sie.

Sie spГјrte die vertraute, bittere Wut aufsteigen.

Wut gegenГјber all den Leuten in Cody Woods Leben, denen es egal war, ob er lebte oder starb.

Wut auf die lächelnden Mitarbeiter im Signet Rehabilitationszentrum, die heuchelten, sie würden Hallie Stillians mögen und vermissen.

Wut auf all die Leute Гјberall, mit ihren LГјgen und Geheimnissen und Gemeinheiten.

Wie sie es so oft tat, stellte sie sich vor, wie sie auf schwarzen Schwingen über der Welt schwebte und Tod und Zerstörung über die Sünder brachte.

Und alle waren SГјnder.

Alle verdienten es, zu sterben.

Selbst Cody Woods war sГјndig gewesen und hatte es verdient zu sterben.

Denn was musste er fГјr ein Mann gewesen sein, dass er die Welt verlieГџ, ohne jemanden zu haben, den es kГјmmerte?

Sicherlich ein schrecklicher Mann.

Schrecklich und hasserfГјllt.

"Geschieht ihm recht", knurrte sie.

Dann ließ die Wut wieder nach. Sie war beschämt, dass sie so etwas laut gesagt hatte. Schließlich meinte sie es gar nicht so. Sie erinnerte sich selbst daran, dass sie nichts als Liebe und Güte allen Menschen gegenüber empfand.

AuГџerdem war es fast an der Zeit, zur Arbeit zu gehen. Heute wГјrde sie Judy Brubaker sein.

In den Spiegel blickend, stellte sie sicher, dass die brünette Perücke richtig saß und der weiche Pony auf natürliche Weise über ihre Stirn fiel. Es war eine teure Perücke und niemandem war bisher aufgefallen, dass es nicht ihr eigenes Haar war. Unter der Perücke waren Hallie Stillians kurze blonde Haare in einem dunklen Braun gefärbt und neu gestylt worden.

Kein Zeichen von Hallie war zurГјckgeblieben, nicht in ihrer Garderobe und nicht in ihrem Verhalten.

Sie nahm eine Lesebrille und hängte sie an einer glitzernden Kette um den Hals.

Sie lächelte zufrieden. Es war klug gewesen, in die passenden Accessoires zu investieren, und Judy Brubaker verdiente das Beste.

Jeder mochte Judy Brubaker.

Und jeder mochte das Lied, das Judy Brubaker oft bei der Arbeit sang – ein Lied, das sie laut vor sich hin sang, während sie sich für die Arbeit fertig machte.



Kein Grund zu weinen

Träum' lang und tief.

Гњbergib dich dem Lied des Schlafs.

Kein Seufzen mehr,

SchlieГџ nur deine Augen

Und du wirst im Traum nach Hause gehen.



Sie floss förmlich über vor Frieden, genug Frieden, um ihn mit der ganzen Welt zu teilen. Sie hatte Cody Woods Frieden gegeben.

Und bald würde sie jemand anderem Frieden geben, der ihn dringend benötigte.




KAPITEL VIER


Rileys Herz schlug wild und ihre Lungen brannten von ihrem keuchenden Atem. Ein vertrautes Lied ging ihr durch den Kopf.

"Folge dem gelben Ziegelsteinweg …"

So müde und erschöpft sie auch war, Riley konnte ein amüsiertes Grinsen nicht unterdrücken. Es war ein kalter früher Morgen und sie lief den sechs Meilen Hindernislauf in Quantico. Der Kurs wurde ausgerechnet gelber Ziegelsteinweg genannt.

Er war von den US Marines so genannt worden, die ihn erbaut hatten. Die Marines hatten gelbe Ziegelsteine gesetzt, um jede Meile zu markieren. FBI Anwärtern, die den Kurs überlebten, wurde als Belohnung ein gelber Ziegelstein überreicht.

Riley hatte schon vor Jahren ihren gelben Ziegelstein gewonnen. Aber ab und zu durchlief sie den Kurs noch einmal, um sicherzugehen, dass sie ihm immer noch gewachsen war. Nach dem emotionalen Stress der letzten Tage brauchte Riley physische Auslastung, um ihren Kopf wieder freizubekommen.

Bisher hatte sie eine Reihe von einschГјchternden Hindernissen Гјberwunden und drei gelbe Ziegel auf dem Weg passiert. Sie war Гјber eine Mauer geklettert, hatte sich Гјber HГјrden gezogen und war durch simulierte Fenster gesprungen. Gerade hatte sie sich an einem Seil eine Felswand hochgezogen und lieГџ sich nun wieder hinunter.

Als sie den Boden erreichte und aufsah, erblickte sie Lucy Vargas, eine clevere junge Agentin, mit der sie gerne arbeitete und trainierte. Lucy war an diesem Morgen bereitwillig als Rileys Trainingspartnerin mitgekommen. Sie stand keuchend auf der Spitze des Felsens und sah zu Riley hinunter.

Riley rief ihr zu, "Kannst du mit einem alten Knochen wie mir nicht mithalten?"

Lucy lachte. "Ich gehe es langsam an. Ich will nicht, dass du dich übernimmst – in deinem Alter."

"Hey, halte dich nicht mir zuliebe zurГјck", rief Riley. "Gib alles, was du hast."

Riley war vierzig, aber sie hatte ihr Fitnesstraining nie vernachlässigt. In der Lage zu sein, sich schnell zu bewegen und hart zuzuschlagen, war überlebenswichtig, wenn man es mit menschlichen Monstern zu tun hatte. Reine physische Kraft hatte mehr als einmal Leben gerettet, ihres eingeschlossen.

Trotzdem freute sie sich nicht, als sie sich dem nächsten Hindernis näherte – einem flachen See eiskalten, matschigen Wassers, über dem Stacheldraht hing.

Das wГјrde nicht einfach werden.

Sie war für das Winterwetter angezogen und trug einen wasserfesten Parka. Der würde allerdings nicht verhindern, dass sie durchnässt und frierend auf der anderen Seite ankam.

Wird schon schiefgehen, dachte sie.

Sie warf sich in den Matsch. Das eisige Wasser sandte Schockwellen durch ihren ganzen Körper. Dennoch zwang sie sich weiter zu kriechen und sie drückte sich flacher auf den Boden, als sie den Stacheldraht leicht über ihren Rücken kratzen fühlte.

Eine nagende Taubheit setzte ein und löste eine ungeliebte Erinnerung aus.



Riley war in einem stockdüsteren Kriechkeller unter einem Haus. Sie war gerade dem Käfig entkommen, in dem sie von einem Psychopathen festgehalten und mit einer Propangasfackel gefoltert worden war. In der Dunkelheit hatte sie das Gefühl dafür verloren, wie viel Zeit vergangen war.

Aber sie hatte es geschafft, die Käfigtür aufzubrechen und jetzt kroch sie blindlings durch die Dunkelheit auf der Suche nach einem Ausgang. Es hatte kürzlich geregnet und der Matsch unter ihr war klebrig, kalt, und tief.

Während ihr Körper durch die Kälte taub wurde, überkam sie eine tiefe Verzweiflung. Sie war schwach vor Hunger und Schlafmangel.

Ich schaffe es nicht, dachte sie.

Sie musste diese Gedanken aus ihrem Kopf verbannen. Sie musste weiterkriechen und weitersuchen. Wenn sie keinen Ausgang fand, dann würde er sie irgendwann töten – so wie er seine anderen Opfer getötet hatte.



"Riley, bist du okay?"

Lucys Stimme riss Riley aus den Gedanken an ihren schlimmsten Fall. Es war eine Qual, die sie niemals vergessen würde, vor allem, weil ihre Tochter später das Opfer des gleichen Psychopathen geworden war. Sie fragte sich, ob sie jemals von diesen Flashbacks befreit sein würde.

Und wГјrde April jemals von diesen verheerenden Erinnerungen befreit sein?

Riley war zurГјck in der Gegenwart und bemerkte, dass sie unter dem Stacheldraht angehalten hatte. Lucy war direkt hinter ihr und wartete darauf, dass sie das Hindernis durchquerte.

"Ich bin okay", rief Riley zurГјck. "Sorry, dass ich dich aufhalte."

Sie zwang sich zum Weiterkriechen. Auf der anderen Seite rappelte sie sich wieder auf und versuchte ihre Gedanken abzuschütteln. Dann lief sie den Waldweg entlang, sicher, dass Lucy dicht hinter ihr war. Sie wusste, dass das nächste Hindernis aus einem Cargo Netz bestand, das es zu überwinden galt. Danach würden noch zwei Meilen und ein paar wirklich schwierige Hindernisse auf sie warten.



*



Am Ende des sechs Meilen Kurses stolperten Riley und Lucy Arm in Arm entlang, lachend und keuchend und sich gegenseitig zu ihrem Erfolg gratulierend. Riley war überrascht, ihren langjährigen Partner dort auf sie wartend vorzufinden. Bill Jeffreys war ein starker, stämmiger Mann in Rileys Alter.

"Bill!", sagte Riley, noch immer nach Atem ringend. "Was machst du denn hier?"

"Ich habe dich gesucht", sagte er. "Sie haben mir gesagt, ich würde dich hier finden. Ich konnte kaum glauben, dass du das freiwillig machst – und das auch noch im Winter! Was bist du, so eine Art Masochist?"

Riley und Lucy mussten beide lachen.

Lucy sagte, "Vielleicht bin ich der Masochist. Ich hoffe, dass ich den gelben Ziegelsteinweg so wie Riley laufen kann, wenn ich in ihrem Alter bin."

Neckend sagte Riley zu Bill, "Hey, ich bin bereit für die nächste Runde. Willst du mitmachen?"

Bill schГјttelte lachend den Kopf.

"Nee, nee", sagte er. "Ich habe meinen alten Ziegelstein noch zu Hause – und ich benutze ihn als Türstopper. Das reicht mir. Ich dachte mehr an einen grünen Ziegel. Bist du dabei?"

Riley lachte wieder. Der sogenannte "grüne Ziegel" war ein Witz innerhalb des FBI – eine Auszeichnung, die jeder bekam, der fünfunddreißig Zigarren an fünfunddreißig aufeinander folgenden Nächten rauchen konnte.

"Nein danke", lehnte sie ab.

Bills Gesicht wurde plötzlich ernst.

"Ich bin an einem neuen Fall, Riley", sagte er. "Und ich brauche dich dabei. Ich hoffe, das ist okay. Ich weiГџ, dass unser letzter Fall noch nicht lange her ist."

Bill hatte Recht. Riley kam es vor, als wären sie erst gestern auf der Jagd nach Orin Rhodes gewesen.

"Du weißt, dass ich gerade erst Jilly nach Hause gebracht habe. Ich versuche ihr zu helfen, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Neue Schule … neues Alles."

"Wie läuft es denn?"

"Sie ist launisch, aber sie gibt sich wirklich MГјhe. Sie freut sich so, ein Teil einer Familie zu sein. Ich denke, sie wird sehr viel Hilfe brauchen."

"Und April?"

"Sie ist fantastisch. Ich kann immer noch nicht glauben, wie viel stärker sie der Kampf mit Rhodes gemacht hat. Und sie hat Jilly jetzt schon sehr lieb gewonnen."

Nach einer Pause fragte sie, "Was fГјr einen Fall hast du, Bill?"

Bill schwieg fГјr einen Augenblick.

"Ich bin auf dem Weg, um mich mit dem Chief deswegen zu treffen", sagte er. "Ich brauche wirklich deine Hilfe, Riley."

Riley sah ihren Freund und Partner an. Sein Gesicht zeigte deutliche Anzeichen von Bedrängnis. Wenn er sagte, er brauche ihre Hilfe, dann meinte er das auch so. Riley fragte sich, warum.

"Lass mich kurz unter die Dusche springen und etwas Trockenes anziehen", sagte sie. "Ich treffe ich dann danach gleich im Hauptquartier."




KAPITEL FГњNF


Teamchef Brent Meredith war kein Mann, der seine Zeit mit Höflichkeiten verschwendete. Das wusste Riley aus Erfahrung. Daher erwartet sie keinen Small Talk, als sie nach dem Hindernislauf in sein Büro kam – keine höflichen Fragen über ihre Gesundheit, ihr Zuhause und ihre Familie. Er konnte freundlich und warm sein, aber diese Momente waren eher selten. Heute kam er direkt auf den Punkt und seine Anliegen waren immer dringend.

Bill war bereits dort. Er sah äußerst nervös aus. Sie hoffte, sie würde bald verstehen, warum.

Sobald Riley sich gesetzt hatte, lehnte Meredith sich Гјber seinen Schreibtisch zu ihr, sein breites, kantiges Gesicht so einschГјchternd wie immer.

"Das Wichtigste zuerst, Agentin Paige", sagte er.

Riley wartete darauf, dass er etwas sagte – ihr eine Frage stellte oder eine Anweisung gab. Stattdessen starrte er sie einfach an.

Riley brauchte nur einen kurzen Moment, um zu verstehen, was Meredith ihr sagen wollte.

Meredith stellte seine Frage absichtlich nicht laut. Riley wusste seine Diskretion zu schätzen. Ein Mörder war auf freiem Fuß und sein Name war Shane Hatcher. Er war aus Sing Sing geflohen und Rileys Auftrag war gewesen, Hatcher einzufangen.

Sie war gescheitert. Tatsächlich hatte sie es nicht wirklich versucht, und jetzt waren andere FBI Agenten dem Fall zugeteilt. Bisher hatten sie keinen Erfolg gehabt.

Shane Hatcher war ein kriminelles Genie. Er war während seiner langen Jahre im Gefängnis ein respektierter Experte der Kriminologie geworden. Daher hatte Riley ihn einige Male im Gefängnis besucht, um seinen Rat für ihre Fälle zu erhalten. Sie kannte ihn gut genug, um sich sicher zu sein, dass er derzeit keine Gefahr für die Gesellschaft darstellte. Hatcher hatte einen seltsamen, aber strikten Moralkodex. Er hatte einen Mann seit seiner Flucht getötet – einen alten Feind, der selbst ein gefährlicher Krimineller gewesen war. Riley war sich sicher, dass er niemanden sonst töten würde.

Riley verstand, dass Meredith wissen musste, ob Hatcher sich bei ihr gemeldet hatte. Es war ein hoch priorisierter Fall und es schien, als wäre Hatcher auf dem besten Weg, eine moderne Legende zu werden – ein berühmtes kriminelles Genie, dem alles möglich war.

Meredith wollte sie durch eine laut gestellte Frage nicht in Bedrängnis bringen. Aber die Wahrheit war simpel. Riley wusste nichts von Hatchers aktuellem Aufenthaltsort oder seinen Aktivitäten.

"Es gibt nichts Neues, Sir", antwortete sie auf Merediths unausgesprochene Frage.

Meredith nickte und schien sich leicht zu entspannen.

"Also gut", sagte Meredith. "Kommen wir direkt zur Sache. Ich schicke Agent Jeffreys nach Seattle. Er möchte Sie als Partnerin. Ich muss wissen, ob Sie bereit sind, mit ihm mitzugehen."

Riley musste nein sagen. Sie hatte so viel, worum sie sich gerade kümmern musste, weshalb ein Fall in einer entfernten Stadt nicht in Frage zu kommen schien. Sie hatte immer noch Anfälle von PTBS, auch wenn sie in der Zeit seit ihrer Gefangenschaft seltener geworden waren. Ihre Tochter, April, hatte ebenfalls durch den Mann gelitten und jetzt kämpfte April mit ihren eigenen Dämonen. Außerdem hatte Riley jetzt auch noch eine neue Tochter, die ihre eigenen Traumata durchlebt hatte.

Wenn sie eine Weile hier bleiben und vielleicht einige Kurse an der Akademie unterrichten könnte, würde sich ihr Leben vielleicht stabilisieren.

"Ich kann nicht", sagte Riley. "Nicht jetzt."

Sie wandte sich an Bill.

"Du weiГџt, worum ich mich gerade kГјmmern muss", sagte sie.

"Ich weiß. Ich hatte nur gehofft …" sagte er, mit einem bittenden Ausdruck in den Augen.

Es war an der Zeit herauszufinden, worum es ging.

"Worum geht es?", fragte Riley.

"Es hat mindestens zwei Giftmorde in Seattle gegeben", sagte Meredith. "Es scheint sich um einen Serienfall zu handeln."

Da verstand Riley, warum Bill so aufgewГјhlt war. Als er noch ein kleiner Junge war, hatte man seine Mutter vergiftet und sie war gestorben. Riley kannte keine Details, aber sie wusste, dass der Mord einer der GrГјnde war, warum er FBI Agent wurde. Es hatte ihn jahrelang verfolgt. Dieser Fall riss alte Wunden auf.

Also hatte er es ernst gemeint, als er sie um Hilfe bat.

Meredith fuhr fort, "Bisher wissen wir von zwei Opfern – einem Mann und einer Frau. Es könnte andere gegeben haben und es könnten noch weitere folgen."

"Warum wurden wir dazu gebeten?", fragte Riley. "Es gibt doch eine FBI Außenstelle in Seattle. Können die das nicht übernehmen?"

Meredith schГјttelte den Kopf.

"Die Situation dort ist recht dysfunktional. Es scheint, als könnten sich das örtliche FBI und die Polizei auf nichts in dem Fall einigen. Deshalb werden Sie gebraucht, ob Sie wollen oder nicht. Kann ich mich auf Sie verlassen, Agentin Paige?"

Plötzlich schien ihr die Entscheidung glasklar zu sein. Trotz ihrer persönlichen Probleme wurde sie bei diesem Fall wirklich gebraucht.

"Das können Sie", sagte sie deshalb.

Bill nickte und atmete hörbar erleichtert aus.

"Gut", sagte Meredith. "Sie fliegen beide morgen frГјh nach Seattle."

Meredith klopfte noch einen Moment mit den Fingern auf den Schreibtisch.

"Aber erwarten Sie kein herzliches Willkommen", fГјgte er hinzu. "Weder die Polizei, noch das FBI sind froh, Sie zu sehen."




KAPITEL SECHS


Riley grauste es vor Jillys erstem Schultag fast so sehr, wie es sie manchmal vor einem Fall grauste. Der Teenager sah grimmig drein und Riley fragte sich, ob sie vielleicht sogar im letzten Moment eine Szene machen wГјrde.

Ist sie bereit dafГјr? fragte Riley sich immer wieder. Bin ich bereit dafГјr?

Auch das Timing schien nicht das Beste zu sein. Es macht Riley Sorgen, dass sie am nächsten Morgen nach Seattle fliegen musste. Aber Bill brauchte ihre Hilfe und damit war die Sache entschieden, soweit es sie anging. Als sie es zu Hause diskutiert hatte, wirkte Jilly verständnisvoll, aber Riley war sich nicht sicher, was sie jetzt erwarten sollte.

GlГјcklicherweise musste sie Jilly nicht alleine zur Schule bringen. Ryan hatte angeboten zu fahren und Gabriela und April waren als moralische UnterstГјtzung dabei.

Sobald sie auf dem Parkplatz aus dem Auto stiegen, nahm April Jillys Hand und ging mit ihr geradewegs auf das Gebäude zu. Die beiden schlanken Mädchen trugen beide Jeans, Stiefel und warme Jacken. Gestern war Riley mit ihnen einkaufen gewesen und hatte Jilly eine neue Jacke aussuchen lassen, zusammen mit Bettwäsche, Postern, und einigen Kissen, um ihr Zimmer ein wenig persönlicher zu gestalten.

Riley, Ryan, und Gabriela folgten den Mädchen und Rileys Herz wurde warm, während sie ihnen nachsah. Nach Jahren des Trotzes und der Rebellion, schien April plötzlich erstaunlich erwachsen zu sein. Riley fragte sich, ob es genau das war, was April die ganze Zeit gebraucht hatte – jemanden, um den sie sich kümmern konnte.

"Sieh sie dir an", sagte Riley zu Ryan. "Sie schlieГџen Freundschaft."

"Wundervoll, oder nicht?", sagte Ryan. "Sie sehen tatsächlich wie Schwestern aus. Ist das, was dich bei ihr angezogen hat?"

Es war eine interessante Frage. Als sie Jilly zu sich nach Hause geholt hatte, war Riley davon überwältigt gewesen, wie unterschiedlich die beiden Mädchen waren. Aber jetzt fielen ihr immer mehr Gemeinsamkeiten auf. Sicher, April war die blassere, mit den nussbraunen Augen ihrer Mutter, während Jilly dunkelbraune Augen hatte und einen olivfarbenen Teint.

Aber jetzt, nebeneinander hergehend, sahen sie sich sehr Г¤hnlich.

"Vielleicht", beantwortete sie Ryans Frage. "DarГјber habe ich nicht nachgedacht. Ich wusste nur, dass sie in ernsten Schwierigkeiten ist und ich ihr vielleicht helfen konnte."

"Wahrscheinlich hast du ihr das Leben gerettet", bemerkte Ryan.

Riley spГјrte einen KloГџ in ihrem Hals. Das war ihr gar nicht in den Sinn gekommen und es war ein bewegender Gedanke. Sie war gleichzeitig aufgeregt und eingeschГјchtert im Angesicht dieser neu gefundenen Verantwortung.

Die ganze Familie ging zum Büro der Vertrauenslehrerin. Warm und lächelnd wie immer, begrüßte Wanda Lewis Jilly mit einer Karte der Schule.

"Ich bringe dich gleich zu deinem Klassenzimmer", sagte Ms. Lewis.

"Ich kann sehen, dass das hier ein guter Ort ist", sagte Gabriela zu Jilly. "Hier wird es dir bestimmt gut gehen."

Jetzt sah Jilly nervös, aber glücklich aus. Sie umarmte alle noch einmal und folgte Ms. Lewis dann den Flur hinunter.

"Ich mag diese Schule", sagte Gabriela zu Ryan, April, und Riley auf dem Weg zurГјck zum Wagen.

"Es freut mich, dass du das auch so siehst", sagte Riley.

Das meinte sie ehrlich. Gabriela war sehr viel mehr, als eine Haushälterin. Sie war ein wahres Mitglied der Familie. Es war wichtig, dass sie ebenfalls ein gutes Gefühl bei Familienentscheidungen hatte.

Sie stiegen wieder ein und Ryan startete den Motor.

"Wohin als Nächstes?", fragte Ryan fröhlich.

"Ich muss zur Schule", sagte April.

"Und danach dann direkt nach Hause", sagte Riley. "Ich muss in Quantico einen Flug erwischen."

"Verstanden", sagte Ryan und fuhr los.

Riley beobachtete Ryans Gesicht während er fuhr. Er sah glücklich aus – glücklich, ein Teil des Ganzen zu sein und glücklich, Zuwachs in der Familie zu haben. Für den größten Teil ihrer Ehe, hatte sie ihn nicht so gekannt. Er schien wahrlich verändert zu sein. In Momenten wie diesen, war sie ihm dankbar.

Sie drehte sich um und sah zu ihrer Tochter, die auf dem RГјcksitz saГџ.

"Du gehst mit allem wirklich gut um", lobte Riley.

April sah sie Гјberrascht an.

"Ich gebe mir wirklich Mühe", erwiderte sie. "Schön, dass du das auch bemerkst."

FГјr einen Moment war Riley vor den Kopf gestoГџen. Hatte sie ihre Tochter aus Sorge um ihr neues Familienmitglied ignoriert?

April war einen Moment still und sagte dann, "Mom, ich bin immer noch froh, dass du sie nach Hause gebracht hast. Ich nehme an, dass es komplizierter ist, als ich es mir vorgestellt hatte – eine neue Schwester zu haben. Sie hatte eine schwere Zeit und manchmal ist es nicht einfach, mit ihr zu reden."

"Ich will es dir nicht schwer machen", sagte Riley.

April lächelte schwach. "Ich habe es dir schwer gemacht", sagte sie. "Ich bin stark genug, um mit Jillys Problemen umzugehen. Und wenn ich ehrlich bin, dann fange ich an es zu genießen, ihr zu helfen. Das wird schon. Bitte mach dir keine Sorgen um uns."

Es erleichterte Riley, dass sie Jilly bei drei Menschen lassen konnte, denen sie vertraute – April, Gabriela, und Ryan. Gleichzeitig störte es sie, dass sie so früh fliegen musste. Sie hoffte, dass es nicht zu lange dauern würde.



*



Die Welt unter ihnen wurde kleiner, während Riley aus dem Fenster des kleinen BAU Jets blickte. Der Jet stieg für seinen Flug nach Seattle über die Wolken – sie würden fast sechs Stunden unterwegs sein. In wenigen Minuten blieb nur noch eine weiße Wolkendecke unter ihnen.

Bill saГџ neben ihr.

Er sagte, "In einen anderen Teil des Landes zu fliegen, lässt mich immer daran denken, wie es vor vielen Jahren gewesen sein muss, als die Leute sich noch zu Fuß oder mit Pferdewagen fortbewegt haben."

Riley nickte und lächelte. Es war, als hätte Bill ihre Gedanken gelesen. Das Gefühl hatte sie oft bei ihm.

"Das Land muss den Leuten damals riesig erschienen sein", sagte sie. "Es hat Monate gedauert, es zu durchqueren."

Eine vertraute und angenehme Stille senkte sich über sie. Über die Jahre hatten sie und Bill mehr als eine Meinungsverschiedenheit und Streits gehabt, es hatte einige Male sogar danach ausgesehen, als wäre ihre Partnerschaft vorüber. Aber jetzt fühlte sie sich ihm gerade wegen dieser harten Zeiten näher als zuvor. Sie vertraute ihm mit ihrem Leben und sie wusste, dass er das gleiche tat.

In Zeiten wie diesen war sie froh, dass sie und Bill sich nicht der gegenseitigen Anziehungskraft ergeben hatten. Auch wenn es manchmal knapp gewesen war.

Es hätte alles ruiniert, dachte Riley.

Es war klug gewesen, es zu vermeiden. Sie konnte sich nicht vorstellen, was der Verlust seiner Freundschaft bedeutet hätte. Er war ihr bester Freund.

Nach einigen Momenten sagte Bill, "Danke, dass du mitkommst, Riley. Ich brauche diesmal wirklich deine Hilfe. Ich glaube nicht, dass ich den Fall mit einem anderen Partner hätte bearbeiten können. Nicht einmal mit Lucy."

Riley sah ihn an, sagte aber nichts. Sie musste nicht fragen, was ihm durch den Kopf ging. Sie wusste, dass er ihr endlich die Wahrheit über das sagen würde, was seiner Mutter zugestoßen war. Dann würde sie verstehen, wie wichtig und verstörend der Fall für ihn wirklich war.

Er starrte vor sich hin, während er sich erinnerte.

"Du weißt bereits von meiner Familie", sagte er. "Ich habe dir erzählt, dass Dad ein Mathelehrer in der Highschool war, und meine Mom als Kassiererin in einer Bank gearbeitet hat. Mit drei Kindern ging es uns gut, wenn wir auch nicht übermäßig wohlhabend waren. Es war ein glückliches Leben für uns. Bis …"

Bill hielt kurz inne.

"Es passierte, als ich neun Jahre alt war", fuhr er stockend fort. "Kurz vor Weihnachten veranstalteten die Mitarbeiter in Moms Bank die jährliche Weihnachtsfeier, mit Geschenkeaustausch, Kuchen und dem gewöhnlichen Bürokram. Als meine Mutter an dem Nachmittag nach Hause kam, klang sie, als hätte sie Spaß gehabt und alles wäre gut. Aber im Verlauf des Abends benahm sie sich immer seltsamer."

Bills Gesicht spannte sie bei der grausigen Erinnerung an.

"Ihr wurde schwindelig, sie war verwirrt und sie sprach undeutlich. Es war fast, als wäre sie betrunken. Aber Mom trank nie viel und außerdem war bei der Feier kein Alkohol ausgeschenkt worden. Niemand von uns wusste, was los war. Es wurde immer schlimmer. Ihr wurde übel und sie musste sich übergeben. Mein Dad brachte sie in die Notaufnahme. Wir Kinder fuhren mit."

Bill hielt wieder inne. Riley konnte sehen, dass es ihm immer schwerer fiel, ihr zu erzählen, was passiert war.

"Als wir im Krankenhaus ankamen, raste ihr Puls, sie hyperventilierte und ihr Blutdruck war unglaublich hoch. Dann fiel sie in ein Koma. Ihre Nieren versagten und sie hatte eine Herzinsuffizienz."

Bill schloss die Augen und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Riley fragte sich, ob es vielleicht besser für ihn wäre, den Rest nicht zu erzählen. Aber sie spürte, dass es auch falsch wäre, ihn zu stoppen.

Bill sagte, "Am nächsten Morgen hatten die Ärzte herausgefunden, was mit ihr nicht stimmte. Sie litt an einer extremen Ethylenglykol Vergiftung."

Riley schГјttelte den Kopf. Das klang vertraut, aber sie konnte es nicht richtig zuordnen.

Bill erklärte schnell, "Ihr Punsch auf der Party wurde mit Frostschutzmittel versetzt."

Riley schnappte nach Luft.

"Mein Gott!", sagte sie. "Wie ist das überhaupt möglich? Ich meine, würde nicht alleine der Geschmack––?"

"Das Ding ist, die meisten Frostschutzmittel schmecken süßlich", sagte Bill. "Es ist einfach, es mit süßen Getränken zu vermischen, ohne das man es merkt. Es ist wirklich leicht, es als Gift zu nutzen."

Riley versuchte zu begreifen, was sie gerade hörte.

"Aber wenn der Punsch vergiftet war, waren nicht auch andere Menschen betroffen?", fragte sie.

"Das ist es ja gerade", sagte Bill. "Niemand sonst wurde vergiftet. Es war nicht in der PunschschГјssel. Es war nur im Punsch meiner Mutter. Jemand hatte es auf sie abgesehen."

Er hielt inne.

"Aber da war es schon zu spät", sagte er. "Sie blieb im Koma und starb an Silvester. Wir waren alle da, neben ihrem Bett."

Irgendwie schaffte Bill es, nicht in Tränen auszubrechen. Riley nahm an, dass er schon zu viele Tränen darüber vergossen hatte.

"Es ergab keinen Sinn", sagte Bill. "Jeder mochte meine Mutter. Sie hatte nicht einen Feind auf der ganzen Welt. Die Polizei hat ermittelt und jeder Mitarbeiter in der Bank wurde als Täter ausgeschlossen. Aber einige Mitarbeiter erinnerten sich an einen fremden Mann, der kam und ging während der Party. Er schien freundlich zu sein und jeder nahm an, dass er der Gast von jemandem war, ein Freund oder Verwandter. Er war weg, bevor die Party vorbei war."

Bill schГјttelte verbittert den Kopf.

"Der Fall wurde nicht gelöst. Er ist immer noch ungelöst. Ich nehme an, das wird auch immer so bleiben. Nach so vielen Jahren, wird er niemals gelöst werden. Es war furchtbar nicht herauszufinden, wer es war, ihn nicht der Gerechtigkeit zuzuführen. Aber das Schlimmste ist, nicht zu wissen warum. Es scheint mir immer noch so unnötig grausam. Warum Mom? Was hat sie getan, dass ihr jemand so etwas Schreckliches angetan hat? Oder vielleicht hat sie gar nichts getan. Vielleicht war es nur ein grausamer Scherz. Nicht zu wissen, war Folter. Ist es noch immer. Und natürlich ist das auch einer der Gründe, warum ich––"

Er brachte den Gedanken nicht zu Ende. Das brauchte er auch nicht. Riley wusste schon lange, dass der ungelöste Fall seiner Mutter der Grund war, weshalb er FBI Agent geworden war.

"Es tut mir leid", sagte Riley.

Bill zuckte schwach mit den Schultern, als wГјrde ein schweres Gewicht auf ihnen lasten.

"Es war vor langer Zeit", sagte er. "AuГџerdem weiГџt du so gut wie niemand sonst, wie es sich anfГјhlt."

Bills leise Worte erschütterten Riley. Sie wusste genau, was er meinte. Und er hatte Recht. Sie hatte ihm vor langer Zeit davon erzählt, also bestand keine Notwendigkeit, es zu wiederholen. Er wusste es bereits. Aber das machte die Erinnerung nicht weniger schmerzlich.



Riley war sechs Jahre alt und ihre Mutter hatte sie zum Süßwarenladen mitgenommen. Riley war aufgeregt und bat um alle Süßigkeiten, die sie sah. Manchmal schalt ihre Mami sie für dieses Verhalten. Aber an diesem Tag war ihre Mami lieb und verhätschelte sie, kaufte ihre alle Süßigkeiten, die sie wollte.

Als sie in der Schlange vor der Kasse standen, kam ein fremder Mann auf sie zu. Er trug etwas auf seinem Gesicht, das seine Nase, Lippen und Wangen platt machte und ihm einen gleichzeitig lustigen und beängstigenden Ausdruck gab; so wie ein Zirkusclown. Riley brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er eine Strumpfhose über dem Gesicht trug, so wie ihre Mami an den Beinen.

Er hielt eine Waffe. Die Waffe sah riesig aus. Er zielte auf ihre Mami.

"Gib mir deine Tasche", sagte er.

Aber Mami tat es nicht. Riley wusste nicht, warum. Sie wusste nur, dass ihre Mami Angst hatte, vielleicht zu viel Angst, um zu tun, was der Mann ihr sagte, und vielleicht sollte Riley auch Angst haben, also tat sie es.

Er sagte böse Wörter zu ihrer Mami, aber sie gab ihm immer noch nicht die Tasche. Sie zitterte am ganzen Körper.

Dann kam ein Knall und ein Blitz und ihre Mami fiel auf den Boden. Der Mann sagte noch mehr böse Wörter und rannte weg. Mamis Brust blutete und sie schnappte nach Luft und wand sich, bevor sie vollkommen still lag.

Die kleine Riley fing an zu schreien. Sie hörte lange nicht auf zu schreien.



Die sanfte BerГјhrung von Bills Hand brachte Riley zurГјck in die Gegenwart.

"Es tut mir leid", sagte Bill. "Ich wollte es nicht wieder aufwГјhlen."

Er hatte offensichtlich die Träne gesehen, die ihr über die Wange lief. Sie drückte seine Hand. Sie war dankbar für sein Verständnis. Aber wenn sie ehrlich war, dann hatte sie Bill nie von einer Erinnerung erzählt, die sie weitaus mehr beschäftigte.

Ihr Vater war ein Oberst bei den Marines gewesen – ein strenger, grausamer, liebloser und nachtragender Mann. In all den Jahren, die folgten, hatte er Riley die Schuld für den Tod ihrer Mutter gegeben. Es machte keinen Unterschied, dass sie erst sechs Jahre alt gewesen war.

"Du hättest sie genauso gut selber erschießen können, so hilfreich wie du ihr warst", hatte er gesagt.

Er war im letzten Jahr gestorben, ohne ihr jemals zu vergeben.

Riley wischte sich Гјber die Wange und sah aus dem Fenster.

Wie so oft wurde ihr klar, wie viel Bill und sie gemeinsam hatten, wie sehr sie von ihrer Vergangenheit gequält wurden. Während all der Jahre, die sie zusammengearbeitet hatten, waren sie von ähnlichen Dämonen und Geistern heimgesucht worden.

So sehr sie sich auch um Jilly und das Leben zu Hause sorgte, wusste Riley doch, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Jedes Mal, wenn sie zusammen arbeiteten, wurde ihre Bindung stärker. Diesmal würde es keine Ausnahme geben.

Sie würden diese Morde lösen, dessen war sie sich sicher. Aber was würden sie und Bill dadurch erreichen oder verlieren?

Vielleicht heilen wir beide ein wenig, dachte Riley. Oder vielleicht werden unsere Wunden wieder aufgerissen und schmerzen mehr.

Sie sagte sich, dass es keinen Unterschied machte. Sie arbeiteten immer zusammen, um den Job abzuschlieГџen, egal wie schwer es war.

Jetzt könnten sie sich allerdings einem besonders hässlichen Fall gegenübersehen.




KAPITEL SIEBEN


Heftiger Regen schlug gegen die Fenster, als sie auf dem Internationalen Flughafen von Seattle-Tacoma landeten. Riley sah auf die Uhr. Zuhause war es jetzt zwei Uhr Nachmittags, aber hier erst elf Uhr am Vormittag. Das würde ihnen Zeit geben, um noch heute den Fall in Angriff nehmen zu können.

Bill und sie begaben sich zum Ausgang, als der Pilot aus dem Cockpit kam und beiden jeweils einen Regenschirm reichte.

"Die werden Sie brauchen", sagte er mit einem Grinsen. "Winter ist die schlimmste Jahreszeit, um hier in der Gegend zu sein."

Riley musste ihm zustimmen, als sie die ersten Stufen hinunterstieg. Sie war froh, dass sie die Regenschirme hatten, aber sie wünschte sich, sie hätte sich wärmer angezogen. Es war kalt und regnerisch.

Ein SUV hielt am Rand der Rollbahn. Zwei Männer in Regenmänteln eilten aus dem Wagen auf das Flugzeug zu. Sie stellten sich als Agenten Havens und Trafford von der FBI Außenstelle in Seattle vor.

"Wir bringen Sie zur Gerichtsmedizin", sagte Agent Havens. "Der Teamleiter des Falls wartet dort auf Sie."

Bill und Riley stiegen ein und Agent Trafford fuhr sie durch den strömenden Regen. Riley konnte kaum die üblichen Flughafenhotels entlang der Strecke sehen. Sie wusste, dass es dort draußen eine ganze Stadt gab, aber nun war sie kaum zu sehen.

Sie fragte sich, ob sie Гјberhaupt etwas von Seattle zu sehen bekommen wГјrde.



*



Sobald Riley und Bill sich im Konferenzraum von Seattles Gerichtsmediziner niederlieГџen, konnte sie die Probleme fast riechen. Sie tauschte einen Blick mit Bill, der ebenfalls die Anspannung zu spГјren schien.

Teamleiter Maynard Sanderson war ein breiter, kantiger Mann mit einer Ausstrahlung, die Riley irgendwo zwischen Soldat und Priester einordnen wГјrde.

Sanderson funkelte einen stämmigen Mann an, dessen dicker Walrossschneuzer seinem Gesicht einen permanent finsteren Blick zu geben schien. Er war als Perry McCade, Polizeichef von Seattle, vorgestellt worden.

Die Körpersprache der beiden Männer und die Plätze, die sie am Tisch eingenommen hatten, sprachen Bände. Der letzte Ort, an dem sie sein wollten, schien der gleiche Raum zu sein. Außerdem war sie sich sicher, dass beide Männer es hassten, Riley und Bill hier zu haben.

Sie erinnerte sich an das, was Brent Meredith ihnen vor ihrer Abreise aus Quantico gesagt hatte.

"Erwarten Sie kein herzliches Willkommen. Weder die Polizei noch das FBI sind froh, Sie zu sehen."

Riley fragte sich, in welche Art von Mienenfeld sie hier geraten waren.

Ein Machtkampf tobte unausgesprochen im Raum. Sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern wГјrde, bis es verbal wurde.

Im Gegensatz dazu sah die Gerichtsmedizinerin Prisha Shankar unbesorgt aus. Die dunkelhäutige, schwarzhaarige Frau war etwa in Rileys Alter und schien stoisch und unerschütterlich zu sein.

Sie ist hier schlieГџlich in ihrem eigenen Revier, dachte Riley.

Agent Sanderson begann das Meeting.

"Agenten Paige und Jeffreys", sagte er zu Riley und Bill, "schön, dass Sie es den ganzen Weg von Quantico hierher geschafft haben."

Seine eisige Stimme machte deutlich, dass er das Gegenteil meinte.

"Froh zu Diensten zu sein", sagte Bill, der nicht sehr sicher klang.

Riley lächelte und nickte.

"Meine Herren", sagte Sanderson, der damit die Anwesenheit der beiden Frauen ignorierte, "wir sind alle hier, um zwei Morde zu untersuchen. Ein Serienmörder könnte sich hier in Seattle niedergelassen haben. Es liegt an uns, ihn zu stoppen, bevor er wieder tötet."

Polizeichef McCade knurrte hörbar.

"Möchten Sie einen Kommentar abgeben, McCade?", fragte Sanderson trocken.

"Das ist kein Serienfall", grummelte McCade. "Und es ist kein FBI Fall. Meine Jungs haben es unter Kontrolle."

Riley begann zu verstehen. Sie erinnerte sich daran, dass Meredith ihr gesagt hatte, die Autoritäten vor Ort seien mit dem Fall ins Schwimmen geraten. Jetzt konnte sie sehen, warum. Niemand war bereit wirklich zusammenzuarbeiten, niemand konnte sich auf etwas einigen.

Polizeichef McCade war wГјtend, weil das FBI sich in seinen Mordfall einmischte. Und Sanderson kochte vor Wut, weil das FBI Bill und Riley geschickt hatte, um Ordnung in die Sache zu bringen.

Eine Verkettung unglücklicher Umstände, dachte Riley.

Sanderson wandte sich an die Gerichtsmedizinerin und sagte, "Dr. Shankar, vielleicht wollen sie zusammenfassen, was wir bisher wissen."

Scheinbar unberГјhrt von der Anspannung im Raum, drГјckte Dr. Shankar auf eine Fernbedienung und rief ein Foto auf der Leinwand auf. Es war das FГјhrerscheinfoto einer recht einfach aussehenden Frau mit glatten Haaren in einem dumpfen Braun.

Shankar sagte, "Vor anderthalb Monaten, ist eine Frau namens Margaret Jewell in ihrem Zuhause im Schlaf gestorben, scheinbar durch einen Herzanfall. Sie hatte am Tag zuvor über Gelenkschmerzen geklagt, aber laut ihrer Frau, war das nicht ungewöhnlich. Sie litt an Fibromyalgie."

Shankar drГјckte wieder auf die Fernbedienung und ein weiteres FГјhrerscheinfoto erschien. Es zeigte einen Mann mittleren Alters mit einem freundlichen, aber melancholischen Gesicht.

Sie sagte, "Vor ein paar Tagen kam Cody Woods ins South Hill Krankenhaus und klagte Гјber Schmerzen in der Brust. AuГџerdem schien er auch Schmerzen in den Gelenken zu haben, was jedoch nicht Гјberraschend war. Er litt unter Arthritis und hatte erst eine Woche zuvor ein neues Kniegelenk eingesetzt bekommen. Innerhalb weniger Stunden, nachdem er ins Krankenhaus aufgenommen worden war, ist auch er an einem scheinbaren Herzanfall gestorben."

"Zwei vollkommen unzusammenhängende Tode", murmelte McCade.

"Wollen Sie jetzt sagen, dass keiner von beiden Mord war?", warf Sanderson ein.

"Margret Jewell, wahrscheinlich", sagte McCade. "Cody Woods, sicherlich nicht. Wir lassen zu, dass wir uns von ihm ablenken lassen. Wir trüben das Wasser. Wenn Sie es einfach meinen Jungs und mir überlassen würden, könnten wir den Fall schnell lösen."

"Sie hatten anderthalb Monate fГјr den Jewell Fall", sagte Sanderson.

Dr. Shankar lächelte geheimnisvoll, als McCade und Sanderson aneinandergerieten. Dann drückte sie wieder auf die Fernbedienung. Zwei weitere Fotos tauchten auf.

Es wurde still im Raum und Riley sah Гјberrascht auf die Leinwand.

Die beiden Männer auf den Fotos schienen aus dem Mittleren Osten zu kommen. Einen von ihnen erkannte Riley nicht. Aber sie erkannte den anderen.

Es war Saddam Hussein.




KAPITEL ACHT


Riley starrte auf das Bild auf der Leinwand. Was konnte die Gerichtsmedizinerin nur mit dem Bild von Saddam Hussein sagen wollen? Der ehemalige Präsident des Irak war 2006 für Verbrechen an der Menschheit hingerichtet worden. Was für eine Verbindung konnte er zu einem möglichen Serienmörder in Seattle haben?

Nachdem sie den Effekt des Fotos kurz hatte sinken lassen, sprach Dr. Shankar wieder.

"Ich bin mir sicher, dass Sie alle den Mann auf der linken Seite kennen. Der Mann rechts ist Majidi Jehad, ein Schia Kritiker gegen Saddams Regime. Im Mai 1980 hat er die Erlaubnis erhalten, nach London zu reisen. Als er an einem Polizeirevier in Baghdad anhielt, um seinen Reisepass abzuholen, wurde ihm ein Glas Orangensaft angeboten. Er verlieГџ den Irak, scheinbar gesund und munter. Er starb, kurz nachdem er in London ankam."

Dr. Shankar zeigte weitere Fotos, von mehr Männern aus dem Mittleren Osten.

"Alle diese Männer hat das gleiche Schicksal ereilt. Saddam hat hunderte von Regimekritikern auf die gleiche Weise beseitigt. Als einige von ihnen aus dem Gefängnis entlassen wurde, bekamen sie zur Feier einen Drink, um auf ihre Freiheit anzustoßen. Keiner von ihnen lebte sehr lang."

Chief McCade nickte verstehend.

"Thallium Vergiftung", sagte er.

"Ganz genau", sagte Dr. Shankar. "Thallium ist ein chemisches Element, das in ein farbloses, geruchsloses und geschmackloses, lösliches Pulver verwandelt werden kann. Es war Saddam Husseins bevorzugtes Gift. Aber er hat es nicht erfunden. Es wird manchmal "Gift der Giftmischer" genannt, weil es langsam wirkt und Symptome zeigt, die als Todesursache missverstanden werden können.

Sie drГјckte auf die Fernbedienung und weitere Gesichter erschienen, darunter auch der kubanische Diktator Fidel Castro.

Sie sagte, "1960 nutzte der französische Geheimdienst Thallium, um den Rebellenanführer Félix-Roland Moumié in Kamerun zu töten. Und es wird weithin angenommen, dass der CIA in mehreren erfolglosen Versuchen Fidel Castro zu töten, Thallium verwendet hat. Der Plan war, Thallium Pulver in Castros Schuhe zu streuen. Wären sie damit erfolgreich gewesen, wäre Castros Tod nicht nur erniedrigend, sondern auch langsam und schmerzhaft gewesen. Sein ikonischer Bart wäre ihm vor seinem Tod ausgefallen.

Sie drГјckte auf die Fernbedienung und die Gesichter von Margaret Jewell und Cody Woods erschienen wieder.

"Ich erzählen Ihnen das, damit Sie verstehen, dass wir es mit einem sehr cleveren Mörder zu tun haben", sagte Dr. Shankar. "Ich habe Spuren von Thallium in den Körpern von Margaret Jewell und Cody Woods gefunden. Es besteht kein Zweifel daran, dass beide vom gleichen Mörder vergiftet wurden."

Dr. Shankar sah sich im Raum um.

"Irgendwelche Kommentare bis hierher?", fragte sie.

"Ja", sagte Chief McCade. "Ich glaube immer noch nicht, dass die Morde in Verbindung stehen."

Riley sah ihn Гјberrascht an. Aber Dr. Shankar schien diesen Kommentar erwartet zu haben.

"Warum nicht, Chief McCade?", fragte sie.

"Cody Woods war ein Klempner", sagte McCade. "Wäre es nicht möglich, dass er während seines Jobs dem Thallium ausgesetzt war?"

"Das ist möglich", nickte Dr. Shankar. "Klempner müssen sehr vorsichtig sein, um alle Arten von giftigen Substanzen zu vermeiden, so wie Asbest und Schwermetalle, darunter Arsen und Thallium. Aber ich denke nicht, dass das bei Cody Woods der Fall war."

Riley merkte interessiert auf.

"Warum nicht?", fragte sie.

Dr. Shankar drГјckte auf die Fernbedienung und ein toxikologischer Bericht erschien.

"Diese Morde scheinen Thallium Vergiftungen zu sein, mit einem Unterschied", sagte sie. "Keines der Opfer zeigt bestimmte klassische Symptome – Haarausfall, Fieber, Erbrechen, Unterleibsschmerzen. Wie ich schon sagte, es gab Gelenkschmerzen, aber wenig anderes. Der Tod kam schnell und wirkte wie ein gewöhnlicher Herzanfall. Es war kein schleichender Tod. Wenn meine Mitarbeiter nicht so auf Zack wären, hätten sie vermutlich nicht einmal gemerkt, dass es sich um Thallium Vergiftungen handelt."

Bill schien Г¤hnlich fasziniert zu sein wie Riley.

"Wir haben es also mit was zu tun – Designer Thallium?", fragte er.

"So etwas in der Art", sagte Dr. Shankar. "Meine Mitarbeiter arbeiten noch daran, den chemischen Mix des Cocktails zu ermitteln. Aber eine der Zutaten war definitiv Potassium Ferrocyanide – eine Chemikalie, die Sie vielleicht als den Farbstoff Preußischblau kennen. Das ist seltsam, denn Preußischblau ist das einzig bekannte Gegenmittel bei einer Thallium Vergiftung."

Chief McCades groГџer Schnurrbart zuckte.

"Das ergibt doch keinen Sinn", knurrte er. "Warum sollte jemand das Gegenmittel zusammen mit dem Gift verabreichen?"

Riley wagte eine Vermutung.

"Vielleicht, um die Symptome der Thallium Vergiftung zu Гјberdecken?"

Dr. Shankar nickte zustimmend.

"Das ist auch meine Theorie. Die anderen Chemikalien, die wir gefunden haben, interagieren mit dem Thallium auf eine komplexe Weise, die wir noch nicht verstehen. Aber sie helfen vermutlich dabei, die Symptome zu kontrollieren. Wer auch immer dieses Gift gemischt hat, weiГџ, was er tut. Er muss sehr gute Kenntnisse von Chemie und Pharmakologie haben."

Chief McCade trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

"Das nehme ich Ihnen nicht ab", sagte er. "Ihre Ergebnisse des zweiten Opfers werden wahrscheinlich von den Ergebnissen des ersten Opfers beeinflusst. Sie haben gefunden, wonach Sie gesucht haben."

Zum ersten Mal zeigte das Gesicht von Dr. Shankar eine Spur von Гњberraschung. Riley war ebenfalls von der Dreistigkeit des Polizeichefs Гјberrascht, Dr. Shankars Expertenmeinung anzuzweifeln.

"Warum denken Sie das?", fragte Dr. Shankar ruhig.

"Weil wir einen Verdächtigen im Fall Margret Jewell haben", sagte er. "Sie war mit einer Frau verheiratet, Barbara Bradley – nennt sich selbst Barb. Die Freunde und Nachbar des Paars haben gesagt, sie hätten Probleme gehabt, laute Streits, die die Nachbarn geweckt haben. Bradley hat eine Vorstrafe für Körperverletzung. Die Leute sagen, sie hätte ein wildes Temperament. Sie hat es getan. Wir sind uns sicher."

"Warum haben Sie sie nicht festgenommen?", verlangte Agent Sanderson.

Chief McCades wich den Blicken aus.

"Wir haben sie befragt, bei ihr zu Hause", sagte er. "Aber sie ist schlГјpfrig und wir haben noch nicht genug Beweise, um sie festzunehmen. Wir sind dabei, den Fall aufzubauen. Es dauert eben."

Agent Sanderson grinste spöttisch.

Er sagte, "Nun, während Sie den Fall gegen sie aufbauen, scheint es, als wäre ihre Verdächtige losgezogen und hätte jemand anderen getötet. Sie sollten besser das Tempo anziehen. Sie könnte gerade den nächsten Mord vorbereiten."

Chief McCades Gesicht wurde rot vor Wut.

"Da liegen Sie falsch", sagte er angestrengt ruhig. "Ich sage Ihnen, Margaret Jewells Mord war ein Einzelfall. Barb Bradley hatte kein Motiv fГјr den Mord an Cody Woods oder sonst jemandem, soweit wir wissen."

"Soweit Sie wissen", wiederholte Sanderson sarkastisch.

Riley konnte spüren, wie die unterschwellige Anspannung an die Oberfläche kam. Sie hoffte, dass das Meeting nicht mit einem Faustkampf enden würde.

Währenddessen ratterte es ihn ihrem Kopf, in dem Versuch alle Details zusammenzufügen, die sie erfahren hatte.

Sie fragte Chief McCade, "Wie wohlhabend waren Jewell und Bradley?"

"Überhaupt nicht", sagte er. "Untere Mittelklasse. Tatsächlich denke ich, dass die finanziellen Probleme ein Teil des Motivs gewesen sein könnten."

"Was macht Barb Bradley beruflich?"

"Sie macht Lieferungen für einen Wäscheservice", sagte McCade.

Riley spürte, wie sich eine Ahnung in ihrem Kopf formte. Sie dachte, dass ein Mörder, der Gift nutzte, wahrscheinlich eine Frau war. Und als eine Lieferfahrerin, könnte diese Zugang zu verschiedenen Gesundheitseinrichtungen haben. Das war definitiv jemand, mit dem sie reden wollte.

"Ich hätte gerne die Adresse von Barb Bradley", sagte sie. "Agent Jeffreys und ich sollten sie befragen gehen."

Chief McCade sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

"Ich habe Ihnen gerade gesagt, dass wir das bereits getan haben", sagte er.

Offensichtlich nicht gut genug, dachte Riley.

Aber sie unterdrГјckte den Drang, das laut zu sagen.

Bill warf ein, "Ich stimme Agentin Paige zu. Wir sollten uns Barb Bradley selbst einmal ansehen."

Chief McCade fasste dies wohl als Beleidung auf.

"Das erlaube ich nicht", sagte er.

Riley wusste, dass der FBI Teamleiter, Agent Sanderson, McCade Гјberstimmen konnte, wenn er wollte. Aber als sie Sanderson hilfesuchend ansah, starrte er sie wГјtend an.

Ihr Mut sank. Auch wenn Sanderson und McCade sich gegenseitig hassten, so waren sie doch in ihrer Ablehnung gegenГјber Bill und Riley vereint. Soweit es sie betraf, hatten Agenten aus Quantico in ihrem Territorium nichts zu suchen. Ob es ihnen klar war oder nicht, ihre Egos waren wichtiger als der Fall selbst.

Wie sollen Bill und ich hier nur etwas erledigen können? fragte sie sich.

Im Gegensatz zu ihnen, schien Dr. Shankar so ruhig und gefasst wie immer zu sein.

Sie sagte, "Ich wГјsste gerne, warum es eine so schlechte Idee ist, dass Jeffreys und Paige Barb Bradley befragen."

Riley war von Dr. Shankars bestimmtem Auftreten Гјberrascht. SchlieГџlich Гјbertrat sie als Gerichtsmedizinerin gerade ihre Grenze.

"Weil ich meine eigenen Ermittlungen fГјhre!", schrie McCade nun fast. "Die richten doch nur Chaos an!"

Dr. Shankar lächelte ihr unerschütterliches Lächeln.

"Chief McCade, stellen Sie wirklich die Kompetenz zweier Agenten aus Quantico in Frage?"

Dann, an den FBI Teamleiter gewandt, fГјgte sie hinzu, "Agent Sanderson, was haben Sie dazu zu sagen?"

McCade und Sanderson starrten Dr. Shankar mit offenen MГјndern an.

Riley bemerkte, dass Dr. Shankar sie anlächelte. Riley konnte nicht verhindern, dass ihr ebenfalls ein bewunderndes Lächeln über das Gesicht huschte. Hier, in ihrem eigenen Gebäude, wusste Shankar, wie sie eine autoritäre Präsens zeigen konnte. Es war egal, wer sonst dachte, er hätte das Sagen. Sie war ein harter Brocken.

Chief McCade schГјttelte resigniert den Kopf.

"Okay", sagte er. "Wenn Sie die Adresse wollen, dann bekommen Sie sie."

Agent Sanderson fГјgte schnell hinzu, "Aber ich will, dass jemand von meinen Leuten dabei ist."

"Das klingt fair", sagte Riley.

McCade kritzelte die Adresse auf ein StГјck Papier und reichte sie Bill.

Sanderson beendete das Meeting.

"Meine GГјte, hast du jemals zwei so arrogante Trottel gesehen?", fragte Bill Riley auf dem Weg zu ihrem Wagen. "Wie zum Teufel sollen wir dabei irgendetwas auf die Reihe bekommen?"

Riley antwortete nicht. Wenn sie ehrlich war, dann wusste sie es auch nicht. Sie spürte, dass der Fall auch ohne diese Machtkämpfe schwierig genug werden würde. Sie und Bill mussten den Fall schnell lösen, bevor noch jemand starb.




KAPITEL NEUN


Heute war ihr Name Judy Brubaker.

Sie genoss es, Judy Brubaker zu sein.

Die Menschen mochten Judy Brubaker.

Sie ging schnellen Schrittes um das leere Bett, strich die Laken glatt und schüttelte die Kissen auf. Während sie das tat, lächelte sie der Frau zu, die in dem bequemen Sessel saß.

Judy hatte noch nicht entschieden, ob sie sie töten würde.

Die Zeit läuft dir davon, dachte Judy. Du musst dich entscheiden.

Der Name der Frau war Amanda Somers. Judy hielt sie fГјr eine seltsame, scheue und mausgraue kleine Kreatur. Sie war erst seit gestern in Judys Pflege.

Während sie weiter das Bett machte, fing Judy an zu singen.



Weit weg von zu Haus'

So weit weg von zu Haus'––

Dieses kleine Baby ist weit weg von zu Haus'.



Amanda stimmte mit ihrer leisen, näselnden Stimme ein.



Du sehnst dich danach

Jeden Tag

Zu traurig zu lachen, zu traurig zu spielen.



Judy war ein wenig Гјberrascht. Amanda Somers hatte bisher kein wirkliches Interesse an dem Lied gezeigt.

"Mögen Sie das Lied?", fragte Judy Brubaker.

"Ich denke schon", sagte Amanda. "Es ist traurig, ich nehme an, das passt zu meiner Stimmung."

"Warum sind Sie traurig? Ihre Behandlung ist abgeschlossen und Sie können wieder nach Hause. Die meisten Patienten freuen sich darüber."

Amanda seufzte, sagte aber nichts. Sie faltete ihre Hände. Mit ihren Fingern zusammen, bewegte sie ihre Handflächen voneinander weg. Sie wiederholte die Bewegung einige Male. Es war eine Übung, die Judy ihr beigebracht hatte, um den Heilungsprozess nach ihrer Karpaltunneloperation zu unterstützen.

"Mache ich das richtig?", fragte Amanda.

"Fast", erwiderte Judy, hockte sich neben sie und berührte ihre Hände, um die Bewegung zu korrigieren. "Sie müssen die Finger gestreckt lassen, sodass sie sich nach außen biegen. Denken Sie daran, Ihre Hände sollten aussehen wie eine Spinne, die Liegestütze auf einem Spiegel macht."

Amanda machte es nun korrekt. Sie lächelte und sah recht stolz auf sich selbst aus.

"Ich kann fГјhlen, wie es hilft", sagte sie. "Danke."

Judy sah Amanda zu, wie sie die Übung wiederholte. Judy hasste die kurze, hässliche Narbe, die sich über den unteren Teil von Amandas rechter Hand zog.

Unnötige Operation, dachte Judy.

Die Ärzte hatten Amandas Vertrauen und Naivität ausgenutzt. Sie war sich sicher, dass eine weniger dramatische Behandlung genauso gut, wenn nicht besser funktioniert hätte. Eine Armschiene vielleicht oder Kortikosteroid Injektionen. Judy hatte schon zu viele Ärzte gesehen, die auf eine Operation bestanden, ob sie notwendig war oder nicht. Es machte sie immer sehr wütend.

Aber heute war Judy nicht nur wГјtend auf die Г„rzte. Sie spГјrte auch Ungeduld mit ihrer Patientin. Sie war sich nicht sicher, warum.

Es ist nicht leicht, etwas aus ihr herauszubekommen, dachte Judy, als sie sich auf die Bettkante setzte.

Während ihrer Zeit zusammen, hatte Amanda Judy reden lassen.

Natürlich hatte Judy Brubaker auch viele interessante Dinge zu erzählen. Judy ähnelte der jetzt verschwundenen Hallie Stillians nicht sehr, die die Persönlichkeit einer gütigen Tante gehabt hatte.

Judy Brubaker war gleichzeitig schlichter und auffallender und sie trug normalerweise einen Jogginganzug anstatt konventioneller Kleidung. Sie liebte es, Geschichten von ihren Abenteuern zu erzählen – Fallschirmspringen, Drachenfliegen, Tauchen, Bergsteigen und anderes. Sie war per Anhalter durch Europa und weite Teile Asiens gereist.

NatГјrlich war nichts davon wirklich passiert. Aber es waren wundervolle Geschichten.

Die meisten Leute mochten Judy Brubaker. Leute die Hallie womöglich zu übertrieben freundlich gefunden hätten, mochten Judys direkte Art sehr viel mehr.

Vielleicht passt Amanda nicht zu Judy, dachte sie.

Aus welchem Grund auch immer, Amanda behielt ihre Gedanken für sich. Sie war Mitte Vierzig, aber erzählte nie von ihrer Vergangenheit. Judy wusste immer noch nicht, was Amanda beruflich tat, oder ob sie überhaupt arbeitete. Sie wusste nicht, ob Amanda jemals verheiratet gewesen war – auch wenn die Abwesenheit eines Eheringes darauf hindeutete, dass sie derzeit nicht verheiratet war.

Judy gefiel es nicht, wie die Dinge liefen. Und die Zeit lief ihr davon. Amanda konnte jederzeit aufstehen und gehen. Und Judy versucht immer noch zu entscheiden, ob sie sie vergiften sollte oder nicht.

Ein Grund für diese Unentschlossenheit war reine Vorsicht. Die Dinge hatten sich in den letzten Tagen drastisch verändert. Ihre letzten beiden Morde waren jetzt in den Zeitungen. Es schien, als hätte ein kluger Gerichtsmediziner das Thallium in den Leichen entdeckt. Das war eine beunruhigende Entwicklung.

Sie hatte einen Teebeutel mit einem veränderten Rezept dabei, das ein wenig mehr Arsen und etwas weniger Thallium verwendete. Aber Entdeckung war immer noch ein Risiko. Sie wusste nicht, ob die Tode von Margaret Jewell und Cody Woods zu ihrem Rehabilitationsaufenthalt oder ihren Pflegerinnen zurückverfolgt worden war. Diese Methode des Tötens wurde gefährlicher.

Aber das größte Problem war, dass es sich nicht richtig anfühlte.

Sie hatte keine Verbindung zu Amanda Somers.

Sie hatte nicht das GefГјhl, sie zu kennen.

Einen "Toast" zu Amandas Abschied vorzuschlagen, würde gezwungen, vielleicht sogar vulgär wirken.

Allerdings war die Frau noch hier, bewegte ihre Hände und zeigte keine Anzeichen für einen baldigen Abschied.

"Wollen Sie nicht nach Hause?", fragte Judy.

Die Frau seufzte.

"Nun, Sie wissen, dass ich noch andere Probleme habe. Zum Beispiel mit meinem Rücken. Es wird schlimmer, je älter ich werde. Mein Doktor sagt, dass ich eine Operation benötige. Aber ich weiß nicht. Ich denke immer wieder, dass ich vielleicht nur eine richtige Therapie brauche. Und Sie sind eine so gute Therapeutin."

"Danke", sagte Judy. "Aber Sie wissen, dass ich hier nicht Vollzeit arbeite. Ich bin freiberuflich tätig und heute ist hier mein vorerst letzter Tag. Falls sie noch länger bleiben, dann leider nicht in meiner Pflege."

Judy wurde durch Amandas wehmГјtigen Blick Гјberrascht. Amanda hatte ihr selten direkt in die Augen gesehen so wie jetzt.

"Sie wissen nicht, wie es ist", sagte Amanda.

"Wie was ist?", fragte Judy.

Amanda zuckte ein wenig mit den Schultern, aber schaute weiter in Judys Augen.

"Von Menschen umgeben zu sein, denen man nicht voll vertrauen kann. Leute die sich scheinbar um einen sorgen und vielleicht tun sie das auch, aber dann wieder, vielleicht auch nicht. Vielleicht wollen sie nur was von dir. Ausnutzer. Allesamt. Es gibt viele solcher Leute in meinem Leben. Ich habe keine Familie und ich weiГџ nicht, wer meine Freunde sind. Ich weiГџ nicht, wem ich vertrauen kann und wem nicht."

Mit einem leichten Lächeln fügte Amanda hinzu, "Verstehen Sie, was ich meine?"

Judy war sich nicht sicher. Amanda sprach noch immer in Rätseln.

Hat sie sich in mich verknallt? fragte Judy sich.

Es war nicht unmöglich. Judy war sich bewusst, dass Leute oft dachten, sie wäre lesbisch. Das amüsierte sie jedes Mal, denn sie hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, ob Judy lesbisch war oder nicht.

Aber vielleicht war es das gar nicht.

Vielleicht war Amanda einfach einsam und sie hatte angefangen Judy zu vertrauen, ohne es zu merken.

Eines war jedoch sicher. Amanda war emotional instabil, wahrscheinlich neurotisch, sicherlich depressiv. Sie musste viele verschiedene Medikamente nehmen. Falls Judy einen Blick auf sie werfen konnte, dann wäre sie vielleicht in der Lage einen Cocktail nur für Amanda zu brauen. Das hatte sie schon einmal getan und es hatte seine Vorteile, vor allem in Zeiten wie diesen. Es wäre gut, das Thallium Rezept dieses eine Mal auszulassen.

"Wo wohnen sie?", fragte Judy.

Ein seltsamer Ausdruck huschte über Amandas Gesicht, als versuche sie herauszufinden, was sie Judy erzählen sollte.

"Auf einem Hausboot", sagte Amanda.

"Ein Hausboot? Wirklich?"

Amanda nickte. Judys Interesse war geweckt. Aber warum hatte sie das Gefühl, dass Amanda ihr nicht die Wahrheit sagte – zumindest nicht die ganze Wahrheit?

"Wie interessant", sagte Judy. "Ich habe Гјber die Jahre immer mal wieder in Seattle gelebt und es gibt so viele Hausboote hier in der Gegend, aber ich habe noch nie eines von innen gesehen. Eines der wenigen Abenteuer, die ich noch nicht erleben durfte."

Amandas Lächeln wurde heller, aber sie sagte nichts. Dieses unerklärliche Lächeln fing an Judy nervös zu machen. Wollte Amanda sie auf ihr Hausboot einladen? Hatte sie überhaupt ein Hausboot?

"Machen Sie auch Hausbesuche?", fragte Amanda.

"Manchmal, aber …"

"Aber was?"

"Nun, in Situationen wie dieser, ist es nicht erlaubt. Das Rehabilitationszentrum wГјrde das als Abwerben ansehen. Ich habe eine Vereinbarung unterzeichnet es nicht zu tun."

Amandas Lächeln wurde nun ein wenig schelmisch.

"Nun, was wäre so falsch daran, wenn sie mich einfach besuchen würden? Kommen Sie vorbei. Schauen Sie sich meine Wohnung an. Wir können uns unterhalten. Ein wenig Zeit zusammen verbringen. Schauen, wo es uns hinführt. Und dann, wenn ich mich entscheide Sie anzuheuern … nun, das wäre dann doch etwas anderes, oder nicht? Definitiv kein Abwerben."

Judy lächelte. Sie begann Amandas Klugheit zu schätzen. Was sie vorschlug, würde die Regeln trotzdem biegen, wenn nicht sogar brechen. Aber wer sollte davon wissen? Und es würde Judys Plänen entgegenkommen. Sie würde all die Zeit haben, die sie brauchte.




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