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Gejagt
Blake Pierce


Ein Riley Paige Krimi #5
Ein Meisterwerk der Spannung! Die Autorin schafft es auf hervorragende Weise, den Charakteren eine psychologische Seite zu geben, die so gut beschrieben ist, dass wir uns in ihre Köpfe versetzt fühlen, ihren Ängsten folgen und über ihren Erfolg jubeln. Die Handlung ist sehr intelligent und wird Sie das ganze Buch hindurch unterhalten. Voller Wendungen wird Sie dieses Buch bis zur letzten Seite wach halten. Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (zu Verschwunden) GEJAGT ist Band #5 in der Bestseller Riley Paige Krimi Serie, die mit dem #1 Bestseller VERSCHWUNDEN (Band 1) beginnt! Ein Ausbruch aus einem Hochsicherheitsgefängnis. Hektische Anrufe vom FBI. Spezialagentin Riley Paiges schlimmster Albtraum ist Wirklichkeit geworden: ein Serienmörder, den sie vor Jahren hinter Gittern brachte, ist auf freiem Fuß. Und sie ist sein größtes Ziel. Riley ist es gewohnt, diejenige zu sein, die Verbrecher jagt, aber zum ersten Mal findet sie sich selbst - und ihre Familie - im Kreuzfeuer eines Jägers wieder. Während der Mörder sie verfolgt, beginnt er außerdem wahllos zu töten und Riley muss ihn stoppen, bevor es zu spät ist - für die anderen Opfer, und für sich selbst. Aber er ist kein gewöhnlicher Mörder. Er ist zu clever, sein Katz-und-Maus-Spiel zu verdreht, und er schafft es immer wieder, ihr zu entkommen und einen Schritt voraus zu sein. Verzweifelt bemüht ihn aufzuhalten, weiß Riley, dass es nur einen Weg gibt: sie muss sich in die Vergangenheit begeben, in den verdrehten Verstand des Mörders, seinen alten Fall untersuchen und herausfinden, was ihn antreibt. Der einzige Weg ihn aufzuhalten, ist sich der Dunkelheit zu stellen, von der sie gehofft hatte, sie hätte sie bereits hinter sich gelassen. Ein dunkler Psychothriller, der Herzklopfen bereitet. GEJAGT ist Band #5 einer fesselnden neuen Serie - mit einem geliebten neuen Charakters - der Sie bis spät in die Nacht wach halten wird. Band #6 in der Riley Paige Serie bald erhältlich.







G E J A G T



(EIN RILEY PAIGE KRIMI – BAND #5)



B L A K E P I E R C E


Blake Pierce



Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller Riley Paige Krimi Serie, die bisher die spannungsgeladenen Thriller VERSCHWUNDEN (Band #1), GEFESSELT (Band #2), ERSEHNT (Band #3) und GEKГ–DERT (Band #4) umfasst. Blake Pierce ist auГџerdem auch die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimi Serie und der AVERY BLACK Krimi Serie.

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi und Thriller Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com (http://www.blakepierceauthor.com) und bleiben Sie in Kontakt!



Copyright В© 2016 Blake Pierce

Aus dem Englischen von Marina Sun



Alle Rechte vorbehalten.

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BГњCHER VON BLAKE PIERCE



RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)



MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)



AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TГ–TEN (Band #1)

GRUND ZU FLГњCHTEN (Band #2)


Inhalt



PROLOG (#u5c7d5abc-a260-5872-a52f-f3e95ddc873b)

KAPITEL EINS (#u85097ef9-3ffa-5bd7-8e7c-ab418d66a752)

KAPITEL ZWEI (#u2eee6701-a7ce-5ac5-a3da-e5a3763226f4)

KAPITEL DREI (#u85c7c1fc-29a6-5c5c-a3f5-7263faabb612)

KAPITEL VIER (#u8bfb8745-e2ae-546a-90f4-1e518d45b9e9)

KAPITEL FГњNF (#u47f71b67-046a-5f5d-b529-069ed2f5765a)

KAPITEL SECHS (#u46fe9dc6-0d1f-584d-9f50-a3ff85a988e2)

KAPITEL SIEBEN (#u2aa565c3-cbf7-5335-9660-ee0fd396a5bc)

KAPITEL ACHT (#udb318d48-0b98-5746-86ab-3ef3c12a7a5d)

KAPITEL NEUN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ELF (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWГ–LF (#litres_trial_promo)

KAPITEL DREIZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL FГњNFZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SECHZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNZEHN (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL DREIUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL SECHSUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL DREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL VIERUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

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KAPITEL SECHSUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL SIEBENUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ACHTUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL NEUNUNDDREIбєћIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL VIERZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL EINUNDVIERZIG (#litres_trial_promo)

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG (#litres_trial_promo)




PROLOG


Das Geräusch von Riley Paiges dahinjagendem Wagen zerriss die Stille in den dunklen Straßen von Fredericksburg. Ihre fünfzehnjährige Tochter wurde vermisst, aber Riley war eher wütend, als besorgt. Sie hatte eine Ahnung, wo sie April finden würde – bei ihrem neuen Freund, dem siebzehnjährigen Schulabbrecher Joel Lambert. Riley hatte ihr bestes versucht, um die Beziehung zu beenden, aber war dabei nicht erfolgreich gewesen.

Das Г¤ndert sich jetzt, dachte sie entschlossen.

Sie hielt vor Joels Haus, einer heruntergekommenen Hütte in einer zwielichtigen Nachbarschaft. Sie war schon einmal hier gewesen und hatte von Joel verlangt, dass er sich von ihrer Tochter verhält. Er hatte sie ganz offensichtlich ignoriert.

Im Haus war kein Licht zu sehen. Vielleicht war niemand zu Hause. Oder vielleicht würde Riley mehr finden, als sie würde verkraften können. Es war ihr egal. Sie hämmerte mit der Faust gegen die Haustür.

"Joel Lambert! Aufmachen!" rief sie.

Keine Antwort. Riley schlug wieder gegen die Tür. Diesmal hörte sie gemurmeltes Fluchen im Inneren des Hauses. Das Licht auf der Veranda ging an. Mit der Sicherheitskette noch verriegelt, öffnete sich die Haustür einen Spalt. Im gedämpften Licht konnte Riley ein unbekanntes Gesicht ausmachen. Es war ein bärtiger Mann von etwa neunzehn oder zwanzig Jahren, der stark drogenabhängig aussah.

"Was wollen Sie?" fragte er benommen.

"Meine Tochter", antwortete Riley knapp.

Der Mann sah sie verwirrt an.

"Sie haben sich in der TГјr vertan, Lady."

Er versuchte die TГјr zu schlieГџen, aber Riley trat so fest dagegen, dass die Sicherheitskette riss und die TГјr aufflog.

"Hey!" rief der Mann.

Riley stürmte ins Innere. Das Haus sah so aus, wie bei ihrem letzten Besuch – ein heilloses Durcheinander, vervollständigt von verdächtigen Gerüchen. Der junge Mann war groß und drahtig. Riley erkannte eine leichte Familienähnlichkeit zu Joel. Aber er war nicht alt genug, um Joels Vater zu sein.

"Wer sind Sie?" fragte sie.

"Ich bin Guy Lambert", erwiderte er.

"Joels Bruder?" riet Riley.

"Ja. Wer zum Teufel sind Sie?"

Riley zog ihre Marke aus der Tasche.

"Spezialagentin Riley Paige, FBI."

Die Augen des Mannes wurden groГџ.

"FBI? Hey, da muss eine Verwechslung vorliegen."

"Sind Ihre Eltern hier?" fragte Riley.

Guy Lambert zuckte mit den Achseln.

"Eltern? Welche Eltern? Joel und ich leben hier alleine."

Riley war nicht Гјberrascht. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, hatte sie so etwas schon vermutet. Sie wollte nicht wissen, was mit ihnen geschehen war.

"Wo ist meine Tochter?" verlangte Riley.

"Lady, ich kenne Ihre Tochter nicht einmal."

Riley machte einen Schritt auf die nächstgelegene Tür zu. Guy Lambert versuchte ihr den Weg zu versperren.

"Hey, mГјssen Sie fГјr so etwas nicht einen Durchsuchungsbefehl haben?" fragte er.

Riley stieГџ ihn zur Seite.

"Ich mache hier die Regeln", knurrte sie.

Riley ging durch die TГјr in das unordentliche Schlafzimmer. Niemand war dort. Sie ging weiter durch eine andere TГјr in ein dreckiges Badezimmer und durch eine dritte TГјr in ein zweites Schlafzimmer. Immer noch niemand.

Sie hörte eine Stimme aus dem Wohnzimmer.

"Bleiben Sie, wo Sie sind!"

Sie eilte zurГјck ins Wohnzimmer.

Ihr Partner, Bill Jeffreys, stand in der EingangstГјr. Sie hatte ihn um Hilfe gerufen, als sie ihr Haus verlieГџ. Guy Lambert saГџ zusammengesunken auf dem Sofa und sah niedergeschlagen aus.

"Der Typ hier wollte sich gerade aus dem Staub machen", erklärte Bill. "Ich habe ihm nur klar gemacht, dass er auf dich warten sollte."

"Wo sind sie?" herrschte Riley Lambert an. "Wo sind Ihr Bruder und meine Tochter?"

"Ich habe keine Ahnung."

Riley packte ihn am T–Shirt und riss ihn auf die Füße.

"Wo sind Ihr Bruder und meine Tochter?" wiederholte sie.

Als er, "Ich weiß es nicht", antwortete, schlug sie ihn gegen die Wand. Sie hörte Bill missbilligend schnauben. Zweifellos war er besorgt, dass Riley sich vergessen könnte. Es war ihr egal.

Vollkommen panisch stieГџ Guy Lambert jetzt eine Antwort hervor.

"Sie sind in einem Haus die StraГџe runter. Dreizehn vierunddreiГџig."

Riley lieГџ ihn los. Ohne ein weiteres Wort stГјrmte sie aus dem Haus und Bill folgte ihr.

Riley hatte ihre Taschenlampe herausgenommen und suchte nach der passenden Hausnummer. "Hier entlang", sagte sie.

"Wir sollten das jemandem melden", sagte Bill.

"Wir brauchen keine Verstärkung", rief Riley, während sie den Bürgersteig entlanglief.

"Das ist nicht, was mir Sorgen macht", murmelte Bill, folgte ihr aber trotzdem.

Nach wenigen Minuten stand Riley im Garten eines zweistöckigen Gebäudes. Es war heruntergekommen und offensichtlich abbruchreif, mit leeren Grundstücken zu beiden Seiten – eine typische "Fixerstube" für Heroinabhängige. Es erinnerte sie an das Haus, in dem der sadistische Psychopath Peterson sie gefangen gehalten hatte. Er hatte sie in einen Käfig gesperrt und sie mit einer Propangasfackel gefoltert, bis sie entkommen war und das Haus mit seinen eigenen Propanvorräten in die Luft gejagt hatte.

Für eine Sekunde zögerte sie, aufgewühlt durch die Erinnerung. Aber sie ermahnte sich selbst:

April ist da drin.

"Mach dich bereit", sagte sie zu Bill.

Bill zГјckte seine Waffe und Taschenlampe und zusammen bewegten sie sich auf das Haus zu.

Auf der Veranda konnte sie sehen, dass die Fenster des Hauses zugenagelt waren. Sie hatte nicht die Absicht diesmal höflich zu klopfen. Sie wollte weder Joel noch irgendjemandem sonst eine Warnung geben.

Sie versuchte die TГјrklinke. Sie lieГџ sich herunterdrГјcken. Aber die TГјr war von innen verriegelt. Sie zog ihre Waffe und zerschoss den Riegel. Sie stieГџ die TГјr auf.

Obwohl es draußen dunkel war, mussten sich ihre Augen erst an die innen herrschende Dunkelheit gewöhnen, als sie und Bill in das Wohnzimmer traten. Das einzige Licht kam von wenigen, verstreuten Kerzen. Sie erleuchteten einen grässlichen Anblick von Müll und Schutt, der leere Herointütchen, Nadeln und sonstige Drogenutensilien beinhaltete. Etwa sieben Leute waren sichtbar – zwei oder drei standen wankend auf, nach dem Lärm, den Riley verursacht hatte, der Rest lag schlaff auf dem Boden oder lag zusammengerollt im Drogenrausch auf Stühlen. Sie alle sahen verhärmt und krank aus, ihre Kleidung dreckig und zerrissen.

Riley steckte ihre Waffe weg. Sie würde sie nicht brauchen – noch nicht.

"Wo ist April?" rief sie. "Wo ist Joel Lambert?"

Ein Mann, der gerade aufgestanden war, sagte mit benommener Stimme, "Oben."

Bill hinter sich, bahnte Riley sich ihren Weg nach oben, ihre Taschenlampe im Anschlag. Sie konnte fühlen, wie die verrottenden Stufen unter ihrem Gewicht nachgaben. Sie und Bill traten in den Flur am Ende der Treppe. Drei Durchgänge, einer davon zu einem übel riechenden Badezimmer, hatten keine Türen mehr und waren sichtbar leer. Der vierte Durchgang hatte noch eine Tür, und sie war geschlossen.

Riley machte einen Schritt auf die TГјr zu, aber Bill hielt sie zurГјck.

"Lass mich vorgehen", sagte er.

Riley ignorierte ihn, Г¶ffnete die TГјr und trat ein.

Ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben, als sie sah, was sich innen abspielte. April lag auf einer nackten Matratze und murmelte immer wieder "Nein, nein, nein." Sie wand sich kraftlos, während Joel bemüht war, ihr die Kleidung auszuziehen. Ein übergewichtiger, unansehnlicher Mann wartete neben ihm darauf, dass Joel seine Aufgabe beendete. Eine Nadel und ein Löffel lagen neben einer Kerze auf dem Nachtschränkchen.

Riley verstand sofort. Joel hatte April unter Drogen gesetzt, bis sie kaum noch ansprechbar war, und bot sie als sexuelle Gefälligkeit dem widerwärtigen Mann an – sei es für Geld oder etwas anderes.

Sie zog ihre Waffe und richtete sie auf Joel. Sie musste all ihre Kraft aufbringen, um ihn nicht an Ort und Stelle zu erschieГџen.

"Weg von ihr", sagte sie.

Joel verstand offensichtlich, was in ihr vorging. Er hob sofort die Hände und entfernte sich mit eiligen Schritten rückwärts vom Bett.

In Richtung des anderen Mannes nickend sagte Riley zu Bill, "Leg dem Bastard Handschellen an. Bring ihn zurück zum Wagen. Jetzt kannst du Verstärkung rufen."

"Riley, hör zu …" Bills Stimme verlor sich.

Riley wusste, was Bill ungesagt lieГџ. Er verstand sehr wohl, dass Riley nur ein paar Minuten alleine mit Joel sein wollte. Und er war nicht gewillt, das zuzulassen.

Immer noch ihre Waffe auf Joel gerichtet, warf Riley Bill einen eindringlichen Blick zu. Bill nickte langsam, ging zu dem Mann, las ihm seine Rechte vor, legte ihm Handschellen an und brachte ihn nach drauГџen.

Riley schloss die Tür hinter ihnen. Dann stand sie mit gehobener Waffe Joel Lambert gegenüber. Das war der Junge, in den April sich verliebt hatte. Aber er war kein normaler Teenager. Er war tief in den Drogenhandel verstrickt. Er hatte diese Drogen bei ihrer Tochter genutzt und offensichtlich vorgehabt, Aprils Körper zu verkaufen. Das war kein Mensch, der fähig war, zu lieben.

"Was willst du jetzt machen, Bulle?" fragte er hämisch. "Ich habe meine Rechte." Er zeigte das gleiche spöttische Lächeln, das sie schon von ihrem letzten Zusammentreffen kannte.

Die Waffe zitterte leicht in Rileys Händen. Sie war versucht, den Abzug zu betätigen und diesen Abschaum wegzublasen. Aber sie konnte sich nicht dazu bringen.

Sie bemerkte, dass Joel sich langsam auf einen Tisch zu bewegte. Er war muskulös und ein wenig größer als Riley. Offenbar versuchte er, zu dem Baseballschläger zu kommen, der an den Tisch gelehnt war. Riley unterdrückte ein Grinsen. Es sah so aus, als würde er genau das tun, was sie von ihm wollte.

"Du bist verhaftet", sagte sie.

Sie steckte ihre Waffe weg und griff nach den Handschellen an ihrem Gürtel. Genau wie sie gehofft hatte, sprang Joel auf den Baseballschläger zu, hob ihn auf und schwang ihn in Richtung Riley. Sie wich dem Schlag aus und bereitete sich auf den nächsten vor.

Diesmal hob Joel den Schläger senkrecht in die Luft und plante scheinbar, ihn auf ihren Kopf niedersausen zu lassen. Aber als er den Schlag auszuführen versuchte, duckte Riley sich weg und griff nach dem schmalen Ende des Schlägers. Sie packte ihn und riss ihm den Schläger aus den Händen. Sie genoss den überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht, als er das Gleichgewicht verlor.

Joel streckte sich nach dem Tisch aus, um seinen Fall zu stoppen. Als seine Hand auf dem Tisch lag, ließ Riley den Baseballschläger darauf krachen. Sie konnte die Knochen brechen hören.

Joel entfuhr ein armseliger Schrei und er fiel zu Boden.

"Du dumme Schlampe!" rief er. "Du hast mir die Hand gebrochen."

AuГџer Atem zГјckte Riley ihre Handschellen.

"Konnte nichts dagegen machen", sagte sie. "Du hast dich widersetzt und ich habe versehentlich deine Hand in der TГјr eingeklemmt. Sorry."

Riley fesselte ihn mit der unverletzten Hand an einen Bettpfosten. Dann trat sie auf seine gebrochene Hand und verlagerte ihr Gewicht darauf.

Joel schrie und wand sich. Seine FГјГџe strampelten hilflos umher.

"Nein, nein, nein!" schrie er.

Immer noch mit ihrem FuГџ auf seiner Hand, beugte Riley sich zu ihm hinunter.

Spöttisch sagte sie, "'Nein, nein, nein!' Wo habe ich diese Worte denn schon einmal gehört? Vielleicht in den letzten paar Minuten?"

Joel heulte vor Panik und Angst.

Riley legte noch einmal ihr ganzes Gewicht auf den FuГџ.

"Wer hat es gesagt?" verlangte sie.

"Deine Tochter … sie hat es gesagt", wimmerte er.

"Was gesagt?"

"'Nein, nein, nein …'"

Riley nahm ein wenig Druck von seiner Hand.

"Und warum hat meine Tochter das gesagt?" fragte sie gefährlich leise.

Joel konnte durch seine heftigen Schluchzer kaum sprechen.

"Weil … sie war hilflos … und hatte Schmerzen. Ich verstehe es. Ich verstehe es."

Riley nahm ihren Fuß von seiner Hand. Sie nahm an, dass die Nachricht angekommen war – vorerst zumindest, wenn auch wahrscheinlich nicht langanhaltend. Aber es war das Beste – oder Schlimmste – was sie jetzt tun konnte. Er verdiente den Tod oder eine noch härtere Strafe. Aber sie konnte sich nicht dazu bringen, sie auszuführen. Zumindest würde er nie wieder seine Hand problemlos nutzen können.

Riley lieГџ Joel liegen, gefesselt und heulend, und eilte zu ihrer Tochter. Aprils Pupillen waren stark geweitet und Riley wusste, dass sie Schwierigkeiten haben wГјrde, sie zu sehen.

"Mom?" wimmerte April leise.

Der Klang dieses einen Wortes löste einen qualvollen Schmerz in Riley aus. Sie brach in Tränen aus und half April ihre Kleidung wieder anzuziehen.

"Ich bringe dich hier raus", versprach sie durch ihre eigenen Schluchzer. "Alles kommt wieder in Ordnung."

Doch während sie die Worte sprach, konnte Riley nur beten, dass sie sich bewahrheiten würden.




KAPITEL EINS


Riley kroch durch den Dreck in einem feuchten Kriechkeller unter dem Haus. Vollkommene Dunkelheit umgab sie. Sie fragte sich, warum sie ihre Taschenlampe nicht mitgebracht hatte. SchlieГџlich war sie schon einmal an diesem schrecklichen Ort gewesen.

Wieder hörte sie Aprils Stimme durch die Dunkelheit hallen.

"Mom, wo bist du?"

Verzweiflung erfГјllte Rileys Herz. Sie wusste, dass April irgendwo in der Finsternis gefangen gehalten wurde. Sie wurde von einem seelenlosen Monster gefoltert.

"Ich bin hier" rief Riley. "Ich komme. Sprich weiter mit mir, damit ich dich finden kann."

"Ich bin hier drГјben", rief April.

Riley kroch in die Richtung aus der die Stimme gekommen war, aber nur Augenblicke später hörte sie Aprils Ruf aus einer anderen Ecke kommen.

"Ich bin hier drГјben."

Die Stimme hallte weiter durch die Dunkelheit.

"Ich bin hier … Ich bin hier … Ich bin hier …"

Es war nicht nur eine Stimme, und es war nicht nur ein Mädchen. Viele Mädchen riefen um Hilfe. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie zu ihnen kommen sollte.



Riley erwachte von ihrem Albtraum, da jemand ihre Hand drГјckte. Sie war Aprils Hand haltend eingeschlafen und April schien nun aufzuwachen. Riley setzte sich gerader auf und sah auf ihre Tochter, die ihm Bett lag.

Aprils Gesicht sah noch immer blass und fahl aus, aber ihre Hand war kräftiger und nicht mehr so kalt. Sie sah schon viel besser aus, als am Tag zuvor. Die Nacht im Krankenhaus hatte ihr gut getan.

April schaffte es, ihre Augen auf Riley zu richten. Dann kamen die Tränen.

"Mom, was, wenn du nicht gekommen wärst?" fragte April mit erstickter Stimme.

Riley brannten ihre eigenen Tränen in den Augen. April hatte diese Frage nun schon unzählige Male gestellt. Riley konnte es nicht ertragen, sich die Antwort vorzustellen, geschweige denn, sie auszusprechen.

Rileys Handy klingelte. Sie sah, dass der Anruf von Mike Nevins kam, dem forensischen Psychiater, der ebenfalls ein guter Freund von ihr war. Er hatte Riley durch viele persönliche Krisen geholfen und sich sofort bereit erklärt, auch bei dieser an ihrer Seite zu stehen.

"Ich wollte nur hören, wie es aussieht", sagte Mike. "Ich hoffe, ich störe nicht."

Riley war froh, Mikes freundliche Stimme zu hören.

"Ganz und gar nicht, Mike. Danke fГјr deinen Anruf."

"Wie geht es ihr?"

"Besser, glaube ich."

Riley wusste nicht, was sie ohne Mikes Hilfe getan hätte. Nachdem Riley April von Joel gerettet hatte, war der gestrige Tag ein Wirbel aus ärztlichem Rettungsdienst, medizinischer Versorgung und Polizeiberichten gewesen. Gestern Abend hatte Mike dafür gesorgt, dass April hier, in das Corcoran Hill Health and Rehab Center eingewiesen wurde.

Es war sehr viel schöner, als das Krankenhaus. Selbst mit all den notwendigen Geräten, sah der Raum ansprechend und gemütlich aus. Durch das Fenster konnte Riley auf die Bäume des gepflegten Anwesens sehen.

In diesem Moment trat Aprils Arzt in den Raum. Sie beendete den Anruf, als Dr. Ellis Spears, ein freundlich aussehender Mann mit einem jungen Gesicht, trotz der grauen Strähnen, an Aprils Bett trat.

Er nahm ihre Hand und fragte, "Wie geht es dir?"

"Nicht gut", erwiderte sie.

"Nun, du musst dir selber ein wenig Zeit geben", sagte er. "Du wirst schon wieder. Mrs. Paige, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?"

Riley nickte und folgte ihm auf den Flur. Dr. Spears warf einen Blick auf die Informationen auf seinem Klemmbrett.

"Das Heroin hat ihr System fast vollständig verlassen", begann er. "Der Junge hat ihr eine gefährliche Dosis verabreicht. Glücklicherweise verlässt es den Blutkreislauf sehr schnell. Sie wird vermutlich keine weiteren physischen Entzugserscheinungen haben. Was sie gerade durchmacht ist eher emotional als physisch bedingt."

"Wird sie …?" Riley konnte sich nicht dazu bringen die Frage auszusprechen.

GlГјcklicherweise verstand der Arzt, was sie wissen wollte.

"Zurückfallen oder Verlangen danach haben? Das ist schwer zu sagen. Der erste Heroingebrauch kann sich wundervoll anfühlen – wie nichts sonst auf der Welt. Sie ist noch nicht abhängig, aber sie wird dieses Gefühl nicht vergessen. Es besteht immer die Gefahr, dass sie sich zu dem Glühen gezogen fühlen wird, dass es ihr gegeben hat."

Riley verstand, was der Arzt ihr sagen wollte. Ab jetzt würde es dringend notwendig sein, April von jedem möglichen Drogenmissbrauch fernzuhalten. Es war eine Aussicht, die ihr Angst machte. April hatte zugegeben, dass sie Marihuana geraucht und Pillen genommen hatte – einige davon offensichtlich verschreibungspflichtige Schmerzmittel, sehr gefährliche Opiate.

"Dr. Spears, ich–"

Riley fiel es schwer die Frage zu formulieren, die ihr durch den Kopf ging.

"Ich verstehe nicht, was passiert ist", sagte sie. "Warum hat sie so etwas getan?"

Der Arzt lächelte sie mitfühlend an. Riley nahm an, dass ihm diese Frage oft gestellt wurde.

"Flucht", sagte er. "Aber ich rede nicht von einer vollständigen Flucht vor dem Leben. Sie ist nicht diese Art von Drogennutzer. Tatsächlich glaube ich, dass sie von Natur aus nicht in dieser Hinsicht gefährdet ist. Wie alle Teenager hat sie eine schwache Impulskontrolle. Das liegt schlicht und ergreifend an einem unreifen Gehirn. Sie mochte das kurzfristige High, das die Drogen ihr gegeben haben. Glücklicherweise hat sie nicht genug genutzt, um einen langfristigen Schaden anzurichten."

Dr. Spears hielt einen Moment inne.

"Ihre Erfahrung war ungewöhnlich traumatisch", sagte er. "Ich meine die Tatsache, dass der Junge versucht hat, sie sexuell auszubeuten. Diese Erinnerung alleine könnte dafür sorgen, dass sie sich von Drogen fernhält. Aber es ist auch möglich, dass emotionaler Stress ein gefährlicher Trigger wird."

Rileys Mut sank. Emotionaler Stress schien gerade ein unvermeidbarer Teil ihres Familienlebens zu sein.

"Wir mГјssen sie fГјr ein paar Tage beobachten", sagte Dr. Spears. "Danach wird sie viel Ruhe, Pflege, und Hilfe mit einer Selbstanalyse brauchen."

Der Doktor verabschiedete sich und setzte seine Runde fort. Riley stand im Flur, alleine und beunruhigt.

Ist das Gleiche mit Jilly passiert? fragte sie sich. Hätte April wie eines dieser verzweifelten Kinder enden können?

Vor zwei Monaten hatte Riley in Phoenix, Arizona, ein Mädchen vor der Prostitution gerettet, das sogar jünger als April gewesen war. Eine seltsame emotionale Verbindung hatte sich zwischen ihnen entwickelt und Riley hatte versucht, mit ihr in Kontakt zu bleiben, nachdem sie sie zu einer Einrichtung für Teenager gebracht hatte. Aber vor ein paar Tagen war Riley informiert worden, dass Jilly ausgerissen war. Nicht in der Lage nach Phoenix zurückzukehren, hatte Riley einen FBI Agenten um Hilfe gebeten. Sie wusste, dass der Mann sich ihr verpflichtet fühlte, und sie erwartete heute von ihm zu hören.

Währenddessen war Riley wenigstens wo sie sein musste, um April zu helfen.

Sie wollte gerade zurück in das Zimmer ihrer Tochter gehen, als sie hörte, wie ihr Name vom anderen Ende des Flures gerufen wurde. Sie drehte sich um und sah das besorgte Gesicht ihres Exmannes, Ryan, auf sie zukommen. Als sie ihn am Tag zuvor angerufen und über die Ereignisse informiert hatte, war er für einen Gerichtsfall in Minneapolis gewesen.

Riley war überrascht ihn zu sehen. Ryans Tochter stand normalerweise weit unten auf seiner Prioritätenliste – tiefer als sein Beruf als Anwalt und sehr viel tiefer als die Freiheit, die er jetzt als Single genoss. Sie hatte nicht erwartet, dass er auftauchen würde.

Aber jetzt kam er auf Riley zugelaufen, umarmte sie und sah sie voller Sorge an.

"Wie geht es ihr? Wie geht es ihr?"

Ryan wiederholte die Frage immer wieder, was es Riley erschwerte zu Wort zu kommen.

"Sie kommt wieder in Ordnung", erwiderte sie.

Ryan zog sich aus der Umarmung zurück und sah sie gequält an.

"Es tut mir leid", sagte er. "Es tut mir so, so leid. Du hast mir gesagt, dass April Probleme hat, aber ich habe nicht zugehört. Ich hätte für euch beide da sein sollen."

Riley wusste nicht, was sie sagen sollte. Entschuldigungen waren nicht Ryans Art. Tatsächlich hatte sie erwartet, dass er ihr die Schuld für das gab, was geschehen war. So war er bisher immer mit Familienkrisen umgegangen. Offensichtlich war der jetzige Vorfall schlimm genug, um ihn tatsächlich zu berühren. Er hatte vermutlich mit ihrem Arzt gesprochen und die ganze schreckliche Geschichte gehört.

Er nickte zur TГјr.

"Kann ich sie sehen?" fragte er.

"NatГјrlich", sagte Riley.

Riley stand in der TГјr und sah zu, wie Ryan an Aprils Bett eilte und sie in die Arme nahm. Er hielt seine Tochter fГјr einige Momente fest an sich gedrГјckt. Riley sah, wie sein Hinterkopf mit unterdrГјckten Schluchzern zuckte. Dann setzte er sich neben April und hielt ihre Hand.

April weinte wieder.

"Oh, Daddy, ich habe wirklich Mist gebaut", sagte sie. "Weißt du, ich war mit diesem Jungen zusammen–"

Ryan hielt ihr einen Finger an die Lippen.

"Schhh. Du brauchst mir nichts erklären. Es ist alles gut."

Riley spürte einen Kloß in ihrem Hals. Plötzlich, zum ersten Mal in einer sehr langen Zeit, hatte sie das Gefühl, als wären sie drei eine Familie. War das gut oder schlecht? War es ein Zeichen dafür, dass es besser werden würde, oder wieder einmal das Vorspiel zu Enttäuschung und Kummer? Sie wusste es nicht.

Riley sah von der TГјr aus zu, wie Ryan liebevoll Гјber das Haar seiner Tochter strich und April entspannt ihre Augen schloss. Es war ein bewegender Anblick.

Wann hat es angefangen so schief zu laufen? fragte sie sich.

Sie wünschte sich, sie könnte die Zeit zurückdrehen, an einen ganz bestimmten Punkt, an dem sie einen schrecklichen Fehler gemacht hatte, und genau das Gegenteil zu tun, damit all dies niemals geschah. Sie war sich sicher, dass Ryan etwas Ähnliches dachte.

Es war ein ironischer Gedanke, und sie wusste es. Der Mörder, den sie vorgestern geschnappt hatte, war von Uhren besessen gewesen und hatte seine Opfer so positioniert, dass sie wie die Zeiger auf einem Ziffernblatt aussahen. Und hier war sie nun, mit ihren eigenen Wunschvorstellungen über die Zeit.

Wenn ich nur Peterson von ihr hätte fernhalten können, dachte sie mit einem Schaudern.

Wie Riley, war auch April von dem sadistischen Monster eingesperrt und mit seiner Propangasfackel gefoltert worden. Das arme Mädchen hatte seitdem mit ihren eigenen Anfällen von PTBS zu kämpfen.

Aber Riley wusste, dass das Problem sehr viel weiter zurГјckging.

Vielleicht, wenn Ryan und ich uns nie hätten scheiden lassen, überlegte sie.

Aber wie hätte sie das verhindern sollen? Ryan war kühl und distanziert gewesen, nicht nur als Ehemann, sondern auch als Vater. Ganz abgesehen einmal von seinen Seitensprüngen. Nicht, dass sie ihm alleine die Schuld gab. Sie selbst hatte auch Fehler gemacht. Sie hatte nie das richtige Gleichgewicht zwischen ihrer Arbeit beim FBI und dem Muttersein gefunden. Und sie hatte die Warnzeichen gesehen, die ihr sagten, dass April auf Schwierigkeiten zusteuerte.

Ihre Traurigkeit nahm zu. Nein, ihr fiel nicht ein besonderer Moment ein, an dem sie alles hätte ändern können. Ihr Leben war so voller Fehler und verpasster Gelegenheiten. Außerdem wusste sie, dass sie die Zeit nicht zurückdrehen konnte. Es hatte keinen Sinn, sich das Unmögliche zu wünschen.

Ihr Telefon klingelte und sie trat auf den Flur. Ihr Herz schlug schneller, als sie sah, dass der Anruf von Garrett Holbrook kam, dem FBI Agenten, der nach Jilly suchte.

"Garrett!" sagte sie, als sie abnahm. "Wie sieht es aus?"

Garrett antwortete in seiner typischen monotonen Stimme.

"Ich habe gute Neuigkeiten."

Riley merkte sofort, wie ihr angespannter Atem ruhiger wurde.

"Die Polizei hat sie eingesammelt", sagte Garrett. "Sie war die ganze Nacht auf der Straße, ohne Geld und ohne einen Ort, an den sie gehen konnte. Sie wurde beim Klauen in einem Supermarkt erwischt. Ich bin gerade mit ihr auf dem Polizeirevier. Ich werde die Kaution stellen, aber …"

Garrett hielt inne. Riley gefiel der Klang dieses "aber" ganz und gar nicht.

"Vielleicht sollte ich euch reden lassen", sagte er.

Einige Sekunden später hörte Riley den vertrauten Klang von Jillys Stimme.

"Hey, Riley."

Als Rileys Panik langsam nachlieГџ, wallte Г„rger in ihr auf.

"Nichts mit 'hey.' Was hast du dir dabei gedacht, einfach so wegzulaufen?"

"Ich gehe nicht wieder zurГјck", sagte Jilly.

"Doch, das tust du."

"Bitte, zwing mich nicht dazu zurГјckzugehen."

Riley schwieg fГјr einen Augenblick. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Einrichtung, in der Jilly gelebt hatte, war ein guter Ort. Riley hatte einige vom Personal kennengelernt, die sehr hilfreich gewesen waren.

Aber Riley verstand auch, wie Jilly sich fГјhlte. Das letzte Mal, als sie zusammen sprachen, hatte Jilly sich beschwert, dass niemand sie wollte, dass Pflegeeltern sie immer Гјbergangen.

"Sie mögen meine Vergangenheit nicht", hatte sie gesagt.

Diese Unterhaltung hatte damit geendet, dass Jilly Riley unter Tränen gebeten hatte, sie zu adoptieren. Riley war nicht in der Lage gewesen, die tausenden Gründe zu erklären, die dagegen sprachen. Sie hoffte, dass dieses Gespräch nicht ähnlich enden würde.

Bevor Riley etwas erwidern konnte, sagte Jilly, "Dein Freund will mit dir reden."

Riley hörte wieder Garrett Holbrooks Stimme.

"Sie sagt immer wieder, dass sie nicht zurückgeht. Aber ich habe eine Idee. Eine meiner Schwestern, Bonnie, denkt darüber nach zu adoptieren. Ich bin sicher, dass sie und ihr Mann Jilly liebend gerne bei sich haben würden. Das heißt, falls Jilly–"

Er wurde von Freudenjauchzern unterbrochen, als Jilly immer wieder "Ja, ja, ja!" rief.

Riley lächelte. Das war genau das, was sie gerade brauchte.

"Das klingt nach einem guten Plan, Garrett", sagte sie. "Lass mich wissen, wie es läuft. Vielen Dank für Ihre Hilfe."

"Jederzeit", erwiderte Garrett.

Sie beendeten den Anruf. Riley ging zurück ins Zimmer und sah, dass Ryan und April in eine scheinbar ungezwungene Unterhaltung vertieft waren. Die Dinge schienen plötzlich so viel besser zu sein. Trotz all ihrer Fehler, und denen von Ryan, hatte sie April ein besseres Leben geboten, als es viele andere Kinder hatten.

Da fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter und hörte eine vertraute Stimme.

"Riley."

Sie drehte sich um und sah in Bills freundliches Gesicht. Als sie zurück in den Flur trat, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Blick zwischen ihrem Exmann und ihrem langjährigen Partner hin und her wanderte. Selbst in seiner Sorge sah Ryan wie der erfolgreiche Anwalt aus, der er war. Sein blondgelocktes gutes Aussehen und sein poliertes Auftreten öffneten ihm alle Türe. Bill, wie ihr wieder einmal auffiel, sah eher aus, wie sie selbst. Sein dunkles Haar zeigte graue Strähnen und er war massiver und deutlich zerknitterter als Ryan. Aber Bill war kompetent in seinem Fachgebiet und er war in ihrem Leben sehr viel verlässlicher gewesen.

"Wir geht es ihr?" fragte Bill.

"Besser. Was ist mit Joel Lambert?"

Bill schГјttelte den Kopf.

"Der kleine Verbrecher ist eine Nummer für sich", sagte er. "Er redet aber. Er sagt, er kennt einige Kerle, die viel Geld mit jungen Mädchen gemacht haben und er dachte, er versucht es selber mal. Kein Anzeichen von Reue, ein Soziopath bis auf die Knochen. Wie auch immer, er wird zweifellos verurteilt und bekommt ein paar Jahre im Gefängnis. Auch wenn er vermutlich einen Deal mit der Staatsanwaltschaft macht."

Riley runzelte die Stirn. Sie hasste diese Deals. Und dieser war besonders verstörend.

"Ich weiß, wie du darüber denkst", sagte Bill. "Aber ich nehme an, dass er uns alles sagen wird, was er weiß und wir werden eine Menge Bastarde ausschalten können. Das ist eine gute Sache."

Riley nickte. Es half zu wissen, dass diese schreckliche Situation auch etwas Gutes haben wГјrde. Aber es gab noch etwas, Гјber das sie mit Bill reden musste. Auch wenn sie sich nicht sicher war, wie sie es sagen sollte.

"Bill, wegen meiner Rückkehr zur Arbeit …"

Bill klopfte ihr auf die Schulter.

"Du musst mir nichts sagen", winkte er ab. "Du kannst eine Weile keine Fälle übernehmen. Du brauchst Zeit. Keine Sorge, das verstehe ich. Und das wird auch jeder in Quantico. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst."

Er sah auf seine Uhr.

"Es tut mir leid so schnell wieder zu gehen, aber–"

"Geh", sagte Riley. "Und danke fГјr alles."

Sie umarmte Bill und er ging. Riley stand im Flur und dachte Гјber die Zukunft nach.

"Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst", hatte Bill gesagt.

Das könnte nicht so einfach sein. Was April zugestoßen war, diente als eindringliche Erinnerung daran, wie viel Übel in der Welt war. Es war ihre Aufgabe so viel davon zu stoppen, wie sie konnte. Und wenn sie eines gelernt hatte, dann, dass das Böse niemals ausruhte.




KAPITEL ZWEI


Sieben Wochen später.



Als Riley das BГјro der Therapeutin erreichte, fand sie Ryan alleine im Warteraum sitzen.

"Wo ist April?" fragte sie.

Ryan nickte zur geschlossenen TГјr.

"Sie ist bei Dr. Sloat", sagte er und klang unsicher. "Sie hatten etwas, Гјber das sie alleine reden mГјssen. Danach sollen wir dazukommen."

Riley seufzte und setzte sich in einen der StГјhle. Sie, Ryan und April hatten in den letzten Wochen viele emotional ermГјdende Stunden hier verbracht. Das wГјrde ihre letzte Sitzung mit der Therapeutin sein, bevor sie alle eine Pause fГјr die Weihnachtsferien machten.

Dr. Sloat hatte darauf bestanden, dass die ganze Familie sich an Aprils Genesung beteiligte. Es war fГјr alle harte Arbeit gewesen. Aber zu Rileys Erleichterung hatte sich Ryan ohne Vorbehalte in den Prozess eingebracht. Er war zu allen Sitzungen gekommen, die er mit seinem Kalender vereinbaren konnte und er hatte sogar seine Arbeit zurГјckgestellt, um mehr Zeit zu haben. Heute hatte er April von der Schule aus hergebracht.

Riley betrachtete nachdenklich das Gesicht ihres Exmannes, der auf die Tür starrte. In vielerlei Hinsicht schien er ein veränderter Mann zu sein. Vor gar nicht allzu langer Zeit, war er in seiner Rolle als Vater so nachlässig gewesen, dass es an Pflichtvergessenheit grenzte. Er hatte immer darauf bestanden, dass Aprils Probleme Rileys Schuld waren.

Aber Aprils Drogenmissbrauch und ihre um Haaresbreite vereitelte Erfahrung der Zwangsprostitution, hatten etwas in Ryan verändert. Nach ihrem Aufenthalt in der Entziehungsklinik, war April nun schon seit sechs Wochen mit Riley zu Hause. Ryan war oft zu Besuch gewesen und hatte sogar mit ihnen Thanksgiving gefeiert. Manchmal wirkte es fast so, als wären sie eine normale Familie.

Aber Riley erinnerte sich immer wieder selbst daran, dass sie noch nie eine normale Familie gewesen waren.

Kann sich das jetzt Г¤ndern? fragte sie sich. Will ich, dass sich das Г¤ndert?

Riley war zwiegespalten und fГјhlte sich ein wenig schuldig. Sie hatte seit Langem versucht zu akzeptieren, dass Ryan kein Teil ihrer Zukunft sein wГјrde. Vielleicht wГјrde es sogar einen anderen Mann in ihrem Leben geben.

Zwischen ihr und Bill hatte es immer eine Anziehungskraft gegeben. Aber sie hatten auch gestritten und waren unterschiedlicher Meinung gewesen. AuГџerdem war ihre professionelle Beziehung anstrengend genug, ohne noch weitere Komplikationen in den Mix zu werfen.

Ihr freundlicher und attraktiver Nachbar Blaine schien eine weitaus bessere Wahl zu sein, vor allem da seine Tochter, Crystal, Aprils beste Freundin war.

Und dennoch, bei Gelegenheiten wie dieser, schien Ryan wieder der Mann zu sein, in den sie sich vor all den Jahren verliebt hatte. Wie wГјrden die Dinge weitergehen? Sie wusste es nicht.

Die TГјr Г¶ffnete sich und Dr. Lesley Sloat trat heraus.

"Sie können jetzt hereinkommen", sagte sie mit einem Lächeln.

Riley war die kleine, stämmige, fröhliche Therapeutin von Anfang an sympathisch gewesen und April mochte sie ebenfalls.

Riley und Ryan gingen in das Büro und setzten sich auf ein paar bequeme Polstersessel. Sie saßen April gegenüber, die mit Dr. Sloat auf einer Couch saß. April lächelte schwach. Dr. Sloat nickte ihr aufmunternd zu.

"Diese Woche ist etwas passiert", sagte April. "Es ist etwas, das ich gehört habe …"

Riley fiel es schwer zu atmen und ihr Herz schlug schneller.

"Es hat mit Gabriela zu tun", sagte April. "Vielleicht sollte sie auch heute hier sein, um darüber zu reden, aber das ist sie nicht, also …"

April brach ab.

Riley sah sie überrascht an. Gabriela war seit Jahren ihre Haushälterin und hatte einen beruhigenden Einfluss auf ihre Familie. Sie war bei Riley und April eingezogen und war eher eine Art Familienmitglied.

April holte tief Luft und sprach weiter, "Vor ein paar Tagen hat sie mir etwas gesagt, dass ich euch nicht erzählen soll. Aber ich denke, dass ihr es wissen solltet. Gabriela hat gesagt, dass sie gehen muss."

"Warum?" keuchte Riley erschrocken.

Ryan sah ebenfalls verwirrt aus. "Bezahlst du ihr nicht genug?" fragte er an Riley gewandt.

"Es ist meinetwegen", sagte April. "Sie hat gesagt, sie kann nicht so weitermachen. Sie hat gesagt, dass es eine zu große Verantwortung ist, mich davon abzuhalten mich zu verletzen oder getötet zu werden."

April hielt inne. Tränen sammelten sich in ihren Augen.

"Sie hat gesagt, dass es zu einfach fГјr mich ist wegzulaufen, ohne dass sie es merkt. Sie kann nachts nicht schlafen und fragt sich, ob ich mich gerade selber in Gefahr bringe. Sie hat gesagt, dass sie jetzt, wo ich wieder gesund bin, sofort ausziehen wird."

Riley konnte nicht fassen, was sie da hörte. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass Gabriela so dachte.

"Ich habe sie angebettelt, nicht zu gehen", sagte April. "Ich habe geweint und sie auch. Aber ich konnte ihre Meinung nicht Г¤ndern und es hat mir solche Angst gemacht."

April versuchte ihre Schluchzer zu unterdrГјcken und wischte sich die Augen mit einem Taschentuch.

"Mom", sagte April, "Ich bin sogar auf die Knie gegangen. Ich habe versprochen ihr niemals wieder so ein Gefühl zu geben. Dann … dann hat sie mich endlich umarmt und gesagt, dass sie nicht geht, solange ich mein Versprechen halte. Und das werde ich. Das werde ich wirklich. Mom, Dad, ich werde dafür sorgen, dass Gabriela oder irgendjemandem sonst sich nie wieder Sorgen um mich machen muss."

Dr. Sloat tätschelte Aprils Hand und lächelte Riley und Ryan zu.

Sie sagte, "Was April sagen will ist, dass sie Гјber den Berg ist."

Riley sah, wie Ryan ein Taschentuch nahm und sich die Augen tupfte. Sie hatte ihn selten weinen sehen. Aber sie verstand, wie er sich fühlte. Sie selbst hatte einen dicken Kloß im Hals. Es war Gabriela – nicht Riley oder Ryan – die April geholfen hatte, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen.

Trotzdem war Riley unsagbar dankbar, dass ihre Familie gemeinsam Weihnachten verbringen wГјrde. Sie ignorierte das schreckliche GefГјhl tief in sich, dass ihr sagte, dass die Monster in ihrem Leben ihr die Feiertage nehmen wГјrden.




KAPITEL DREI


Als Shane Hatcher am Weihnachtmorgen in die Gefängnisbücherei kam, zeigte die Uhr, dass es zwei Minuten vor der vollen Stunde war.

Perfektes Timing, dachte er.

In wenigen Minuten wГјrde er ausbrechen.

Es amüsierte ihn, dass überall Weihnachtsdekorationen angebracht waren – alle aus Styropor natürlich, nichts Hartes, keine Ecken, nichts, was man als Seil verwenden könnte. Hatcher hatte viele Weihachten in Sing Sing verbracht und der Versuch hier ein Gefühl von Weihnachtsfeierlichkeit zu vermitteln, erschien ihm absurd. Er musste fast laut lachen, als er Freddy sah, den wortkargen Bibliothekar, der eine rote Nikolausmütze trug.

An seinem Schreibtisch sitzend drehte Freddy sich zu ihm und warf ihm ein verzerrtes Grinsen zu. Das Grinsen verriet Hatcher, dass alles nach Plan verlief. Hatcher nickte stumm und erwiderte das Lächeln. Dann ging Hatcher zwischen zwei Regale und wartete.

Als die Uhr die volle Stunde anzeigte, hörte Hatcher, wie sich die Ladetür am anderen Ende der Bücherei öffnete. Kurz darauf schob der Fahrer eine große Plastikwanne auf Rädern in den Raum. Die Tür schloss sich lautstark hinter ihm.

"Was hast du heute fГјr mich, Bader?" fragte Freddy.

"Was denkst du, was ich habe?" erwiderte der Fahrer. "BГјcher, BГјcher, BГјcher."

Der Fahrer warf Hatcher einen schnellen Blick zu und drehte sich dann weg. Der Fahrer war natürlich eingeweiht. Ab diesem Moment taten Freddy und der Fahrer so, als wäre er nicht da.

Ausgezeichnet, dachte Hatcher.

Zusammen entluden Freddy und Bader die BГјcher auf einen Metalltisch.

"Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee drüben in der Kantine?" sagte Freddy den Fahrer. "Oder vielleicht sogar einen heißen Eierpunsch? Den haben sie gerade für die Feiertage."

"Klingt gut."

Die beiden Männer unterhielten sich während sie durch die beiden Schwingtüren der Bücherei verschwanden.

Hatcher stand unbeweglich zwischen den Regalen und kontrollierte die Position der Plastikwanne. Er hatte einen Wärter bestochen, um die Überwachungskamera über die letzten Tage Stück für Stück zu bewegen, bis ein toter Winkel in der Bücherei entstand – einer, der dem Wärter, der die Monitore überwachte, bisher nicht aufgefallen war. Es sah so aus, als hätte der Fahrer die exakte Position gefunden.

Hatcher trat zwischen den Regalen hervor und stieg in die Plastikwanne. Der Fahrer hatte eine grobe Wolldecke auf den Boden der Wanne gelegt. Hatcher zog sie Гјber sich.

Jetzt kam es zu der einzigen Phase in Hatchers Plan, in der möglicherweise etwas schief gehen könnte. Aber selbst wenn jemand in die Bücherei kam, bezweifelte er, dass dieser jemand in die Plastikwanne gucken würde. Andere, die normalerweise den Bücherwagen genau untersuchen würden, wenn er das Gelände verließ, waren ebenfalls bestochen worden.

Nicht, dass er sich Sorgen machte oder nervös war. Solche Emotionen fühlte er schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ein Mann, der nichts zu verlieren hatte, konnte mit solchen Emotionen nichts anfangen. Das Einzige, was sein Interesse wecken konnte, war das Ungewisse.

Er lag unter der Decke und lauschte aufmerksam. Er hörte, wie die Minuten langsam dahin tickten.

Noch fГјnf Minuten, dachte er.

Das war der Plan. Diese fünf Minuten würden es Freddy ermöglichen, Wissen über den Plan abzustreiten. Er konnte wahrheitsgetreu sagen, dass er nicht gesehen hatte, wie Hatcher in die Wanne stieg. Er konnte sagen, dass er geglaubt habe, Hatcher hätte die Bücherei bereits davor verlassen. Nach den fünf Minuten würden Freddy und der Fahrer zurückkommen und Hatcher würde aus der Bücherei gerollt und aus dem Gefängnis gefahren werden.

Hatcher erlaubte seinen Gedanken auf Wanderschaft zu gehen. Er fragte sich, was er mit seiner Freiheit anfangen wГјrde. Er hatte kГјrzlich Informationen erhalten, die das Risiko lohnenswert, sogar interessant machten.

Hatcher lächelte, als er an eine andere Person dachte, die zweifellos Interesse an seinem Ausbruch haben würde. Er wünschte, er könnte das Gesicht von Riley Paige sehen, wenn sie herausfand, dass er ausgebrochen war.

Er lachte leise.

Es wГјrde interessant sein, sie wiederzusehen.




KAPITEL VIER


Riley sah zu, wie April das Weihnachtsgeschenk auspackte, das Ryan fГјr sie gekauft hatte. Sie fragte sich, wie gut Ryan den Geschmack seiner Tochter kannte.

April lächelte, als sie ein Armband herausnahm.

"Es ist wunderschön!" sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

"Ich habe gehört, dass die gerade recht beliebt sind", sagte Ryan lächelnd.

"Das sind sie!" erwiderte April. "Danke!"

Dann zwinkerte sie Riley kaum merkbar zu. Riley musste ein Lachen unterdrücken. Erst vor ein paar Tagen hatte April Riley erzählt, wie sehr sie diese albernen Armbändchen verabscheute, die jetzt alle Mädchen trugen. Trotzdem hatte April es geschafft, überzeugend enthusiastisch zu klingen.

NatГјrlich war es nicht vollkommen geheuchelt. Sie konnte sehen, dass April sich Гјber die MГјhe freute, die ihr Vater sich gegeben hatte, um ihr ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen.

Riley hatte bei dem Anblick der teuren Handtasche, die Ryan ihr geschenkt hatte, das gleiche gefühlt. Es war nicht ihr Stil und vermutlich würde sie sie nicht nutzen – es sei denn, sie wusste, dass Ryan kommt. Und soweit sie wusste, fühlte Ryan ähnlich über das Portemonnaie, das Riley und April ihm ausgesucht hatten.

Wir versuchen wieder eine Familie zu sein, dachte Riley.

Und fГјr den Moment, schienen sie erfolgreich zu sein.

Es war der Weihnachtmorgen und Ryan war gerade zu Besuch gekommen, um Zeit mit ihnen zu verbringen. Riley, April, Ryan, und Gabriela saßen neben dem knisternden Kamin und tranken heiße Schokolade. Der köstliche Geruch von Gabrielas Weihnachtsessen lag in der Luft.

Riley, April, und Ryan trugen die Schals, die Gabriela fГјr sie gestrickt hatte und Gabrielas FГјГџe steckten in den kuscheligen Hausschuhen, die April und Riley fГјr sie gekauft hatten.

Es klingelte an der TГјr und Riley ging, um sie aufzumachen. Ihr Nachbar, Blaine, und seine Tochter, Crystal, standen davor.

Riley war gleichzeitig erfreut und beunruhigt. In der Vergangenheit hatte Ryan eifersüchtig auf Blaine reagiert – und nicht ohne Grund, wie Riley zugeben musste. Wenn sie ehrlich war, dann fand sie ihn äußerst attraktiv.

Riley verglich ihn in Gedanken mit Bill und Ryan. Blaine war einige Jahre jГјnger als sie, schlank und fit, und sie mochte es, dass er nicht eitel genug war, um seine Geheimratsecken zu verstecken.

"Kommt rein!" sagte Riley.

"Tut mir leid, ich kann nicht", erwiderte Blaine. "Ich muss zum Restaurant. Aber ich habe Crystal vorbeigebracht."

Blaine gehörte ein beliebtes Restaurant in der Altstadt. Riley hätte es nicht wundern sollen, dass es auch an Weihnachten geöffnet war. Das heutige Weihnachtsessen bei Blaine's Grill war vermutlich köstlich.

Crystal eilte ins Wohnzimmer und gesellte sich zu der Gruppe am Kamin. Kichernd rissen sie und April gleich das Papier von den Geschenken, die sie sich gegenseitig Гјberreicht hatten.

Riley und Blaine tauschten ebenfalls diskret Weihnachtskarten aus, bevor Blaine sich auf den Weg machte. Als Riley sich wieder vor dem Kamin einfand, sah Ryan leicht angesäuert aus. Riley steckte die Karte weg, ohne sie zu lesen. Sie würde warten, bis Ryan wieder nach Hause fuhr.

Mein Leben ist wahrlich kompliziert, dachte sie. Aber es fing an, sich wie ein beinahe normales Leben anzufГјhlen; eine Version ihres Lebens, die sie genieГџen konnte.



*



Rileys Schritte hallten durch den großen dunklen Raum. Plötzlich hörte sie das Knacken des Lichtschalters. Das Licht ging an und blendete sie für einen Augenblick.

Riley fand sich in einem Korridor wieder, der zu einem Wachsmuseum zu gehören schien, das nur grausige Ausstellungsstücke zeigte. Zu ihrer Rechten war die nackte Leiche einer Frau wie eine Puppe vor einen Baum drapiert. Zu ihrer Linken hing eine tote Frau, in Ketten gewickelt, von einem Laternenpfahl. Das nächste Ausstellungsstück zeigte mehrere Frauenleichen mit ihren Armen hinter den Rücken gebunden. Dahinter waren ausgehungerte Körper, deren Arme auf groteske Weise abstanden.

Riley erkannte jede Szene wieder. Es waren alles Fälle, die sie in der Vergangenheit bearbeitet hatte. Sie stand in ihrer ganz persönlichen Kammer des Schreckens.

Aber was tat sie hier?

Plötzlich hörte sie eine junge Stimme voller Angst nach ihr rufen.

"Riley, hilf mir!"

Sie sah zu dem Ursprung der Stimme, der Silhouette eines jungen Mädchens, das die Arme verzweifelt nach ihr ausstreckte.

Es sah aus wie Jilly. Sie war wieder in Schwierigkeiten.

Riley lief ihr entgegen. Aber dann ging ein weiteres Licht an und zeigte ihr, dass die Silhouette nicht Jilly war.

Es war ein kauziger alter Mann, der die volle Uniform eines Marine Obersts trug.

Es war Rileys Vater. Und er lachte Гјber Rileys Fehler.

"Du hast doch nicht erwartet, hier jemanden noch lebend zu finden, oder?" sagte er. "Du nutzt keinem was, es sei denn, sie sind tot. Wie oft muss ich dir das noch sagen?"

Riley war verwirrt. Ihr Vater war vor Monaten gestorben. Sie hatte ihn nicht vermisst. Sie hatte sich eher die größte Mühe gegeben, nicht an ihn zu denken. Er war immer ein harter Mann gewesen und hatte ihr nichts als Schmerz bereitet.

"Was machst du hier?" fragte Riley.

"Nur auf der Durchreise." kicherte er. "Wollte nur sehen, wie du jetzt wieder dein Leben versaust. Alles wie immer, wie ich sehe."

Riley wollte sich auf ihn stГјrzen. Sie wollte ihn so hart schlagen, wie sie nur konnte. Aber sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen.

Dann hörte sie ein lautes Summen.

"Wünschte wir könnten uns unterhalten", sagte er. "Aber du hast was anderes zu tun."

Das Summen wurde lauter und lauter. Ihr Vater drehte sich um und ging davon.

"Du warst nie fГјr irgendjemanden gut", sagte er. "Nicht einmal fГјr dich selbst."



Riley riss die Augen auf. Ihr wurde klar, dass das Summen ihr Telefon war. Die Uhr zeigte sechs Uhr morgens.

Der Anruf kam von Quantico. Um diese Zeit konnte das nichts Gutes bedeuten.

Sie nahm ab und hörte die ernste Stimme ihres Teamchefs, Spezialagent Brent Meredith.

"Agentin Paige, ich brauche Sie sofort in meinem BГјro", sagte er. "Das ist ein Befehl."

Riley rieb sich die Augen.

"Worum geht es?" fragte sie.

Am anderen Ende entstand eine kurze Pause.

"Das müssen wir persönlich besprechen", sagte er.

Dann legte er auf. FГјr einen Moment fragte Riley sich, ob sie fГјr ihr Verhalten abgemahnt werden wГјrde. Aber nein, sie war seit Monaten beurlaubt. Ein Anruf von Meredith konnte nur eines bedeuten.

Ein neuer Fall, dachte Riley.

Er würde sie während der Feiertage aus keinem anderen Grund anrufen.

Und dem Ton in Merediths Stimme nach zu urteilen, war es etwas Großes – möglicherweise Lebensveränderndes.




KAPITEL FГњNF


Rileys ungutes Gefühl nahm zu, als sie das BAU Gebäude betrat. Ihr Chef wartete auf sie in seinem Büro. Ein großer, muskulöser Mann mit kantigen Gesichtszügen, war Meredith immer eine imposante Erscheinung. Jetzt sah er sie besorgt an.

Bill war ebenfalls da. Riley konnte an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass er nicht wusste, um was es bei dem Gespräch ging.

"Setzen Sie sich, Agentin Paige", sagte Meredith.

Riley nahm ihm gegenГјber Platz.

"Es tut mir leid, Ihre Feiertage zu stören", sagte Meredith zu Riley. "Es ist eine Weile her, dass wir gesprochen haben. Wie geht es Ihnen?"

Riley wusste nicht, was sie davon halten sollte. Es war nicht Merediths Art ein Meeting mit einer Entschuldigung und Erkundigungen nach ihrem Befinden zu beginnen. Normalerweise kam er direkt auf den Punkt. NatГјrlich wusste er, dass sie wegen Aprils Krise beurlaubt war. Riley verstand, dass Meredith ernsthaft besorgt war. Trotzdem kam es ihr seltsam vor.

"Es geht mir besser, danke", sagte sie.

"Und Ihre Tochter?" hakte Meredith nach.

"Sie erholt sich, danke", erwiderte Riley.

Meredith sah sie aufmerksam an.

"Ich hoffe, dass Sie bereit sind, Ihre Arbeit wieder aufzunehmen", sagte Meredith. "Denn wir haben Sie noch nie dringender an einem Fall gebraucht."

In Rileys Kopf rasten die Gedanken, während sie darauf wartete, dass er sich erklärte.

SchlieГџlich sagte Meredith, "Shane Hatcher ist aus Sing Sing geflohen."

Seine Worte trafen sie wie eine Tonne Ziegelsteine. Riley war froh, dass sie saГџ.

"Mein Gott", entfuhr es Bill, der gleichermaГџen entsetzt war.

Riley kannte Shane Hatcher gut – zu gut, wenn es nach ihr ging. Seit Jahrzehnten saß er nun als lebenslänglicher Gefangener im Gefängnis. Während seiner Zeit im Gefängnis war er ein Experte der Kriminologie geworden. Er hatte Artikel in Fachmagazinen veröffentlicht und sogar eine Klasse in dem akademischen Programm des Gefängnisses unterrichtet. Riley hatte ihn einige Male in Sing Sing besucht, um seinen Rat bezüglich eines aktuellen Falles zu bekommen.

Ihre Besuche waren immer verstörend gewesen. Hatcher schien eine besondere Affinität ihr gegenüber zu spüren. Und Riley wusste, tief in sich, dass sie faszinierter von ihm war, als sie sein sollte. Sie dachte, dass er wahrscheinlich der intelligenteste Mann war, den sie getroffen hatte – und wahrscheinlich auch der gefährlichste.

Sie hatte sich geschworen, dass sie ihn nie wieder besuchen wГјrde. Jetzt erinnerte sie sich nur zu gut an das letzte Mal, als sie sich unterhalten hatten.

"Ich werde nicht noch einmal hierher kommen", hatte sie ihm gesagt.

"Vielleicht mГјssen sie gar nicht herkommen, um mich zu sehen", war seine Antwort gewesen.

Jetzt erschienen ihr diese Worte verstörend vorausschauend.

"Wie ist er entkommen?" fragte Riley Meredith.

"Ich habe noch nicht sehr viele Details", erwiderte Meredith. "Aber wie Sie wahrscheinlich wissen, hat er viel Zeit in der Gefängnisbücherei verbracht und dort oft als Assistent gearbeitet. Gestern war er dort, als die Bücher angeliefert wurden. Er muss sich in den Truck geschlichen haben und ist so entkommen. Der Truck wurde spät gestern Abend einige Meilen außerhalb von Ossining gefunden, etwa zur gleichen Zeit, zu der die Wärter seine Abwesenheit bemerkt haben. Von dem Fahrer fehlt jede Spur."

Meredith verfiel wieder in Schweigen. Riley konnte sich gut vorstellen, dass Hatcher einen solch riskanten Ausbruchsversuch unternahm. Was den Fahrer anging, wollte Riley lieber nicht darГјber nachdenken, was mit ihm passiert war.

Meredith lehnte sich Гјber den Tisch zu Riley.

"Agentin Paige, sie kennen Hatcher besser als jeder sonst. Was können Sie uns über ihn sagen?"

Riley holte tief Luft. Sie war noch immer von den Neuigkeiten erschГјttert.

"In seiner Jugend war Hatcher ein Gangmitglied in Syracuse. Er war außergewöhnlich brutal, selbst für einen abgehärteten Kriminellen. Man hat ihn 'Shane the Chain' genannt, weil er rivalisierende Bandenmitglieder gerne mit Reifenketten zu Tode geprügelt hat."

Riley hielt inne und erinnerte sich an etwas, das Hatcher ihr erzählt hatte.

"Ein Streifenpolizist hat es sich zur Aufgabe gemacht, Hatcher das Handwerk zu legen. Hatcher hat zurückgeschlagen, indem er ihn mit einer Reifenkette bis zur Unkenntlichkeit entstellt und getötet hat. Seine blutige Leiche hat er auf die Veranda gelegt, damit sie von der Familie gefunden wird. Danach wurde Hatcher geschnappt. Er ist jetzt seit etwa dreißig Jahren im Gefängnis. Er hätte niemals herauskommen sollen."

Schweigen senkte sich Гјber den Raum.

"Er ist jetzt fünfundfünfzig", sagte Meredith zögernd. "Ich würde denken, dass er nach dreißig Jahren im Gefängnis nicht mehr so gefährlich ist, wie in seiner Jugend."

Riley schГјttelte den Kopf.

"Da denken Sie falsch. Damals war er nur ein dummer Junge. Er hatte keine Ahnung von seinem eigenen Potenzial. Aber über die Jahre hat er sich großes Wissen angeeignet. Er weiß, dass er ein Genie ist. Und er hat nie wirklich Reue gezeigt. Oh, und er hat über die Jahre eine sehr polierte äußere Erscheinung entwickelt. Und er hat sich im Gefängnis benommen – das hat ihm Privilegien eingebracht, wenn auch keine Verkürzung seines Urteils. Ich bin mir sicher, dass er brutaler und gefährlicher ist, als je zuvor."

Riley dachte einen Moment nach. Etwas störte sie. Sie konnte nur nicht genau den Finger darauf legen.

"WeiГџ jemand, warum?" fragte sie.

"Warum was?" entgegnete Bill.

"Warum er ausgebrochen ist."

Bill und Meredith tauschten verwirrte Blicke.

"Warum bricht jemand aus dem Gefängnis aus?" fragte Bill.

Riley verstand, wie seltsam ihre Frage klang. Sie erinnerte sich daran, dass Bill einmal bei einem Gespräch mit Hatcher dabei gewesen war.

"Bill, du hast ihn getroffen", sagte sie. "Erschien er dir als – nun ja, unzufrieden? Rastlos?"

Bill zog nachdenklich die Brauen zusammen.

"Nein, tatsächlich war er …"

Seine Stimme verlor sich.

"Fast glücklich, vielleicht?" beendete Riley seinen Gedanken. "Gefängnis scheint ihm zu liegen. Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass er seine Freiheit überhaupt will. Da ist fast etwas Zen–mäßiges an ihm, eine Loslösung von allem im Leben. Er hat keine Begierden oder Verlangen, von denen ich wüsste. Freiheit hat ihm nichts zu bieten. Und jetzt ist er auf der Flucht, ein gesuchter Mann. Also, warum hat er sich entschieden, auszubrechen? Und warum jetzt?"

Meredith trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch.

"Wie hat ihr letztes Gespräch mit ihm geendet?" fragte er. "Einvernehmlich?"

Riley konnte ein ironisches Grinsen kaum unterdrГјcken.

"Nichts zwischen uns war je einvernehmlich", sagte sie.

Dann, nach einer kurzen Pause, fГјgte sie hinzu, "Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Sie fragen sich, ob ich sein Ziel bin."

"Ist das möglich?" fragte Bill.

Riley antwortete nicht. Wieder erinnerte sie sich an Hatchers Worte.

"Vielleicht mГјssen sie gar nicht hierher kommen, um mich zu sehen".

Waren sie eine Drohung gewesen? Riley wusste es nicht.

Meredith sagte, "Agentin Paige, Ich muss Ihnen nicht sagen, dass dies ein hoch priorisierter Fall sein wird, bei dem wir unter extremem Druck stehen. Während wir uns hier unterhalten, gehen die Nachrichten an die Medien. Ein Gefängnisausbruch ist immer eine große Sache. Er kann sogar Panik in der Öffentlichkeit auslösen. Was auch immer er vorhat, wir müssen ihn schnell stoppen. Ich wünschte, Sie müssten nicht mit einem so harten und gefährlichen Fall wieder in die Arbeit einsteigen. Sind Sie bereit? Denken Sie, Sie werden das schaffen?"

Riley fГјhlte ein seltsames Kribbeln bei dieser Frage. Es war ein GefГјhl, das sie selten, wenn Гјberhaupt vor einem Fall spГјrte. Sie brauchte einen Moment um zu begreifen, dass das GefГјhl schlicht und einfach Angst war.

Aber es war nicht die Angst um ihre eigene Sicherheit. Es war etwas anderes. Etwas Unaussprechliches und Irrationales. Vielleicht lag es daran, dass Hatcher sie so gut kannte. Ihrer Erfahrung nach wollten alle Häftlinge etwas im Austausch für Informationen. Aber Hatcher war nicht an den üblichen Dingen, wie Whiskey oder Zigaretten interessiert gewesen. Sein eigenes Quidproquo war sowohl einfach, als auch verstörend gewesen.

Er wollte, dass sie ihm etwas über sich erzählte.

"Etwas, von dem Sie nicht wollen, dass andere es wissen", hatte er gesagt. "Etwas, von dem Niemand etwas wissen soll."

Riley hatte zu bereitwillig nachgegeben. Jetzt wusste Hatcher alles Mögliche über sie – dass sie eine Mutter mit Fehlern war, dass sie ihren Vater gehasst hatte und nicht zu seiner Beerdigung gegangen war, dass es sexuelle Spannungen zwischen ihr und Bill gab, und dass sie manchmal – genau wie Hatcher selbst – Freude an Gewalt und dem Töten fand.

Sie erinnerte sich an das, was er während ihres letzten Gesprächs gesagt hatte.

"Ich kenne Sie. Auf eine Art kenne ich Sie besser, als Sie sich selbst."

Konnte sie wirklich ihren Verstand mit einem Mann wie diesem messen? Meredith saГџ hinter seinem Schreibtisch und wartete geduldig auf eine Antwort.

"Ich bin so bereit, wie ich nur sein kann", sagte sie und versuchte dabei zuversichtlicher zu klingen, als sie war.

"Gut", sagte Meredith. "Wie sollen wir vorgehen?"

Riley dachte einen Moment nach.

"Bill und ich mГјssen alle Informationen durchgehen, die das BГјro Гјber Shane Hatcher hat", sagte sie dann.

Meredith nickte. "Ich habe Sam Flores bereits gebeten, alles bereit zu machen."



*



Wenige Minuten später saßen Riley, Bill, und Meredith im BAU Konferenzraum vor dem großen Display, auf dem der Labortechniker Sam Flores Informationen zusammengefasst hatte. "Ich denke, dass ich alles zusammen habe, was Sie sehen wollen", sagte er. "Geburtsurkunde, Strafregister, Gerichtsmitschriften, etc."

Riley nickte Flores anerkennend zu. Die Informationen lieГџen nichts zu wГјnschen Гјbrig. Unter anderem sah sie einige grausige Fotos von Shane Hatchers Opfern, darunter auch die blutige Leiche des Polizisten auf seiner Veranda.

"Welche Informationen haben wir über den Polizisten, den Hatcher getötet hat?" fragte Bill.

Flores rief eine Reihe von Fotos auf, die einen herzlich aussehenden Polizisten zeigten.

"Officer Lucien Wayles, bei seinem Tod 1986 sechsundvierzig Jahre alt", berichtete Flores. "Er war verheiratet, drei Kinder, mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet, Гјberall beliebt und respektiert. Das FBI hat sich mit der Г¶rtlichen Polizei zusammengetan und Hatcher innerhalb von Tagen nach Wayles Tod festgenommen. Was mich erstaunt ist, dass sie Hatcher nicht an Ort und Stelle zu Brei geschlagen haben."

Bei dieser letzten Bemerkung schnaubte Bill beifällig.

Riley war jedoch am meisten getroffen von den Fotos, die Hatcher selbst zeigten. Sie erkannte ihn kaum. Obwohl der Mann, den sie kannte, einschüchternd sein konnte, schaffte er es ein respektables Äußeres zu präsentieren, sogar auf seine Weise akademisch auszusehen, mit seiner Lesebrille, die immer auf seiner Nasenspitze saß. Der junge Afroamerikaner auf dem Fahndungsbild von 1986 hatte ein schmales, hartes Gesicht und einen grausamen, leeren Blick. Riley konnte kaum glauben, dass es sich um die gleiche Person handelte.

So detailliert und vollständig die Präsentation auch war, Riley war unzufrieden. Sie hatte selber geglaubt, dass sie Shane Hatcher besser kannte, als sonst jemand. Aber diesen Shane Hatcher kannte sie nicht – das brutale junge Gangmitglied 'Shane the Chain.'

Ich muss ihn kennen lernen, dachte sie.

Sie bezweifelte, dass sie sonst in der Lage sein wГјrde ihn zu fassen.

Sie hatte ein Gefühl, als würde das kalte, digitale Display gegen sie arbeiten. Sie brauchte etwas Handfesteres – tatsächliche Fotos mit Knicken und ausgefransten Ecken, vergilbte Berichte und Dokumente.

Sie fragte Flores, "Könnte ich mir die Originaldokumente ansehen?"

Flores schnaubte ungläubig.

"Sorry, Agentin Paige – keine Chance. Das FBI hat all seine Papierunterlagen 2014 geschreddert. Jetzt ist alles gescannt und digitalisiert. Was Sie hier sehen, ist alles, was wir haben."

Riley seufzte enttäuscht. Ja, sie erinnerte sich daran, dass Millionen von Papierakten geschreddert wurden. Andere Agenten hatten sich beschwert, aber damals war ihr das nicht als problematisch erschienen. Jetzt sehnte sie sich geradezu nach altmodischen Akten.

Aber jetzt war das Wichtigste, herauszufinden, was Hatchers nächster Zug sein würde. Ihr kam eine Idee.

"Wer war der Polizist, der Hatcher schließlich festgenommen hat?" fragte sie. "Wenn er noch lebt, dann könnte das Hatchers erstes Ziel sein."

"Es war kein Г¶rtlicher Polizist", sagte Flores. "Und es war kein 'er.'"

Er rief ein altes Foto von einer Agentin auf.

"Ihr Name ist Kelsey Sprigge. Sie war eine FBI Agentin im Syracuse Büro – damals fünfunddreißig Jahre alt. Sie ist jetzt siebzig und lebt als Rentnerin in Searcy, einer Stadt in der Nähe von Syracuse."

Riley war überrascht zu hören, das Sprigge eine Frau war.

"Sie muss zum FBI gekommen sein–" fing Riley an.

Flores fГјhrte ihren Gedanken aus.

"1972, als J. Edgars Leiche noch kaum kalt war. Damals wurde es Frauen endlich erlaubt, sich als Agenten zu bewerben. Vorher war sie bei der Polizei."

Riley war beeindruckt. Kelsey Sprigge hatte viel Geschichte durchlebt.

"Was können Sie mir über sie erzählen?" fragte Riley Flores.

"Nun, sie ist eine Witwe mit drei Kindern und drei Enkeln."

"Rufen Sie im Syracuse BГјro an und sagen Sie ihnen, dass sie alles tun sollen, um Sprigge zu beschГјtzen", sagte Riley. "Sie ist in ernster Gefahr."

Flores nickte.

Dann wandte sie sich an Meredith.

"Sir, ich brauche ein Flugzeug."

"Warum?" fragte er verwirrt.

Sie holte tief Luft.

"Shane ist möglicherweise auf dem Weg, um Sprigge zu töten", sagte sie. "Und ich will zuerst mit ihr sprechen."




KAPITEL SECHS


Als der FBI Jet auf der Landebahn des Syracuse Hancock International Airport aufsetzte, erinnerte sie sich an etwas, das ihr Vater ihr im Traum gesagt hatte.

"Du nutzt keinem was, es sei denn, sie sind tot."

Riley sah die Ironie. Das hier war vermutlich der erste Fall, bei dem noch niemand ermordet worden war, bevor sie ihn bekam.

Aber das wird sich wahrscheinlich bald Г¤ndern, dachte sie.

Sie war insbesondere um Kelsey Sprigge besorgt. Sie wollte die Frau persönlich treffen und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Dann läge es an Riley und Bill dafür zu sorgen, dass es auch so blieb und Shane Hatcher wieder hinter Gittern landete.

Während das Flugzeug auf das Gate zurollte, sah Riley, dass sie in einer wahren Winterwelt angekommen waren. Auch wenn die Landebahn frei war, zeigten die riesigen Schneeberge daneben, wie viel Aufwand das gekostet hatte.

Es war eine Abwechslung von der Szenerie in Virginia – und eine willkommene. Riley wurde klar, wie sehr sie eine neue Herausforderung brauchte. Sie hatte Gabriela von Quantico aus angerufen und erklärt, dass sie auf dem Weg war, einen Fall zu lösen. Gabriela hatte sich für sie gefreut und ihr versichert, dass sie sich um April kümmern würde.

Als das Flugzeug seine Endposition erreicht hatte, schnappten Riley und Bill sich ihr Gepäck und kletterten die Stufen hinunter auf die vereiste Rollbahn. Riley fühlte den eisigen Wind auf ihrem Gesicht und war froh, dass sie in Quantico mit einer dicken Kapuzenjacke ausgestattet worden war.

Zwei Männer eilten auf sie zu und stellten sich als Agenten McGill und Newton vom FBI Büro in Syracuse vor.

"Wir sind hier, um zu helfen, wo wir können", sagte McGill zu Bill und Riley, während sie das Terminal betraten.

Riley stellte die erste Frage, die ihr in den Sinn kam.

"Beobachten Ihre Leute Kelsey Sprigge? Ist sie sicher?"

"Eine Polizeieskorte ist vor ihrem Haus in Searcy positioniert", sagte Newton. "Wir sind sicher, dass es ihr gut geht."

Riley wünschte sich, sie könnte diese Zuversicht teilen.

Bill sagte, "Okay. Dann brauchen wir jetzt nur etwas, das uns nach Searcy bringt."

McGill sagte, "Searcy ist nicht weit von Syracuse, und die Straßen sind frei. Wir haben einen SUV mitgebracht, den Sie nutzen können, aber … ähm, sind Sie es gewohnt in nördlichem Winterwetter zu fahren?"

"Wissen Sie, Syracuse gewinnt immer die Goldene Schneeball Auszeichnung", fГјgte Newton mit verschmitztem Stolz hinzu.

"Goldener Schneeball?" fragte Riley.

"Das ist der New York State Preis für den meisten Schnee", erklärte McGill. "Wir sind die Gewinner. Haben sogar eine Trophäe, um es zu beweisen."

"Vielleicht sollte einer von uns fahren", schlug Newton unsicher vor.

Bill lachte leise. "Danke, aber ich denke, dass bekommen wir hin. Vor ein paar Jahren war ich in North Dakota fГјr den Winter. Da habe ich eine gute Dosis Fahren im Winter bekommen."

Auch wenn sie es nicht sagte, fühlte Riley sich ebenso qualifiziert in dieser Art des Fahrens. Sie hatte in den Bergen von Virginia gelernt zu fahren. Der Schnee war nie so hoch wie hier, aber die Landstraßen wurden nie sehr schnell freigeräumt. Sie hatte vermutlich genauso viel Zeit auf vereisten Straßen verbracht, wie die Leute hier.

Aber sie ГјberlieГџ Bill nur zu gerne das Fahren. Ihre Gedanken drehten sich gerade nur um die Sicherheit von Kelsey Sprigge. Bill nahm die SchlГјssel und sie machten sich auf den Weg.

"Ich muss schon sagen, es fühlt sich gut an, wieder zusammen zu arbeiten", sagte Bill während er fuhr. "Es ist selbstsüchtig, nehme ich an. Ich mag es, mit Lucy zu arbeiten, aber es ist nicht dasselbe."

Riley lächelte. Sie fühlte sich ebenfalls gut dabei, wieder mit Bill zu arbeiten.

"Trotzdem wГјnscht sich ein Teil von mir, du wГјrdest nicht zu diesem Fall zurГјckkommen", fГјgte er hinzu.

"Warum nicht?" fragte Riley Гјberrascht.

Bill schГјttelte den Kopf.

"Ich habe ein ungutes Gefühl dabei", sagte er. "Denk daran, ich habe Hatcher auch getroffen. Es braucht einiges, um mir Angst zu machen, aber … nun ja, er ist eine Klasse für sich."

Riley antwortete nicht, aber sie musste ihm insgeheim zustimmen. Sie wusste, dass Hatcher Bill bei ihrem Besuch manipuliert hatte. Mit untrГјglichen Instinkten hatte der Gefangene scharfsinnige Bemerkungen Гјber Bills Privatleben gemacht.

Riley erinnerte sich, wie Hatcher auf Bills Ehering gezeigt und gesagt hatte:

"Vergessen Sie Ihre Versuche, das mit Ihrer Frau wieder geradezubiegen. Das wird nicht passieren."

Hatcher hatte Recht gehabt und jetzt steckte Bill inmitten eines hässlichen Scheidungskampfes.

Am Ende des gleichen Besuchs hatte er etwas zu Riley gesagt, das sie immer noch verfolgte.

"Hören Sie auf, sich dagegen zu wehren."

Bis zu diesem Tag war sie sich nicht sicher, was Hatcher damit gemeint hatte. Aber sie spürte ein unerklärliches Grauen, dass sie es eines Tages herausfinden würde.



*



Kurze Zeit später parkte Bill neben den großen aufgeschütteten Schneehaufen vor Kelsey Sprigges Haus in Searcy. Riley sah einen Streifenwagen mit zwei uniformierten Polizisten in der Nähe. Aber zwei Polizisten in einem Wagen reichten nicht aus, um sie zu beruhigen. Der brutale und brillante Kriminelle, der aus Sing Sing ausgebrochen war, könnte kurzen Prozess mit ihnen machen, sollte ihm der Sinn danach stehen.

Bill und Riley stiegen aus dem Wagen und hielten ihre Marken in Richtung des Polizeiwagens. Dann gingen sie den geräumten Bürgersteig entlang zum Haus. Es war ein traditionelles zweistöckiges Gebäude mit einem hohen Dach und einer Veranda, die mit Weihnachtslichtern geschmückt war. Riley klingelte.

Eine Frau öffnete ihnen mit einem freundlichen Lächeln die Tür. Sie war schlank und fit und trug einen Jogging Anzug. Ihr Gesichtsausdruck war heiter und fröhlich.

"Sie mГјssen die Agenten Jeffreys und Paige sein", sagte sie. "Ich bin Kelsey Sprigge. Kommen Sie rein, dort drauГџen ist es furchtbar kalt."

Kelsey Sprigge fГјhrte Riley und Bill in ein gemГјtliches Wohnzimmer mit einem knisternden Feuer im Kamin.

"Möchten Sie etwas trinken?" fragte sie. "Natürlich sind Sie im Dienst. Ich hole Ihnen einen Kaffee."

Sie ging in die Küche, während Bill und Riley sich setzten. Riley besah sich die Weihnachtsdekoration und die vielen Fotos, die an den Wänden hingen und auf Kommoden standen. Sie zeigten Kelsey Sprigge in allen Stadien ihres Lebens, von Kindern und Enkeln umgeben. In vielen der Bilder stand ein lächelnder Mann an ihrer Seite.

Riley erinnerte sich, dass Flores gesagt hatte, sie sei Witwe. Den Fotos nach zu urteilen, war es eine lange und glückliche Ehe gewesen. Kelsey Sprigge schien etwas geschafft zu haben, das Riley nicht fertigbrachte. Sie hatte ein erfülltes, liebevolles Familienleben, während sie als FBI Agent arbeitete.

Riley brannte es unter den Nägeln zu fragen, wie sie das geschafft hatte. Aber natürlich war das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Die Frau kam zurück und trug ein Tablett mit zwei Bechern Kaffee, Milch und Zucker, und – zu Rileys Überraschung – ein Scotch on the Rocks für sich selbst.

Riley mochte Kelsey auf Anhieb. Für eine Frau von siebzig Jahren, war sie noch erstaunlich lebhaft und energetisch, und zäher als die meisten Frauen, die sie getroffen hatte. Auf eine seltsame Weise hatte Riley das Gefühl, sich selbst in einer Art Vorschau zu sehen.

"Nun dann", sagte Kelsey und lächelte. "Ich wünschte unser Wetter wäre angenehmer."

Riley war von der ungezwungenen Gastfreundschaft überrascht. Unter den Umständen hatte sie eine zutiefst beunruhigte oder sogar verängstigte Frau erwartet.

"Ms. Sprigge–", fing Bill an.

"Kelsey, bitte", unterbrach die Frau. "Und ich weiß warum Sie hier sind. Sie denken, dass Shane Hatcher mich vielleicht zu seinem ersten Ziel machen könnte. Sie denken, er wird versuchen mich zu ermorden."

Riley und Bill sahen sich unsicher an.

"Und natürlich ist deshalb auch die Polizei draußen", sagte Kelsey, die immer noch freundlich lächelte. "Ich habe sie gefragt, ob sie hereinkommen und sich aufwärmen wollen, aber davon wollten sie nichts wissen. Sie wollten mir nicht einmal mein Jogging am Nachmittag erlauben! Sehr schade, ich liebe es einfach bei diesem klaren, kalten Wetter zu Laufen. Nun, ich mache mir keine Sorgen, dass ich ermordet werden könnte, und ich denke, das sollten sie auch nicht. Ich denke wirklich nicht, dass Shane Hatcher so etwas vorhat."

Riley platzte fast heraus, "Warum nicht?"

Stattdessen sagte sie vorsichtig, "Kelsey, Sie haben ihn verhaftet. Sie haben ihn vor Gericht gebracht. Er verbringt sein Leben im Gefängnis, Ihretwegen. Sie könnten der Grund sein, warum er ausgebrochen ist."

Kelsey schwieg einen Moment nachdenklich. Sie blickte auf die Waffe, die Riley im Holster trug.

"Was fГјr eine Waffe tragen sie, meine Liebe?" fragte sie.

"Eine Glock, Kaliber vierzig", sagte Riley.

"Schön!" sagte Kelsey. "Darf ich sie mir angucken?"

Riley reichte Kelsey die Waffe. Kelsey nahm das Magazin heraus und besah sich die Waffe genauer. Sie behandelte sie mit der Anerkennung eines GenieГџers.

"Glocks kamen für mich ein wenig zu spät, um sie im Einsatz zu nutzen", sagte sie. "Ich mag sie aber. Der Polymer Rahmen fühlt sich gut an – sehr leicht, gut ausbalanciert. Eine sehr beeindruckende Waffe."

Sie lud das Magazin wieder und reichte Riley ihre Waffe zurГјck. Dann ging sie zu einem Schreibtisch. Sie nahm eine halbautomatische Pistole heraus.

"Ich habe Shane Hatcher mit diesem Baby hier geschnappt", sagte sie lächelnd. Sie reichte Riley die Pistole und setzte sich wieder. "Eine Smith and Wesson Modell 459. Ich habe ihn verwundet und entwaffnet. Mein Partner wollte ihn auf der Stelle töten – Rache für den Polizisten, den er ermordet hat. Aber da habe ich nicht mitgemacht. Ich habe ihm gesagt, sollte er Hatcher töten, dann würde es mehr als eine Leiche zu begraben geben."

Kelsey errötete leicht.

"Meine Güte", sagte sie. "Ich würde es vorziehen, wenn diese Geschichte nicht die Runde macht. Bitte erzählen Sie das keinem."

Riley gab ihr die Waffe zurГјck.

"Wie auch immer, ich konnte sehen, dass ich Hatchers Zustimmung bekam", sagte Kelsey. "Wissen Sie, er hat einen sehr strikten Kodex, selbst als Gangmitglied. Er wusste, dass ich nur meinen Job mache. Ich denke, das hat er respektiert. Und er war auch dankbar. Jedenfalls hat er nie Interesse an mir gezeigt. Ich habe ihm sogar einige Briefe geschrieben, aber er hat nie geantwortet. Er erinnert sich vermutlich nicht einmal an meinen Namen. Nein, ich bin mir sicher, dass er mich nicht töten will."

Kelsey warf Riley einen interessierten Blick zu.

"Aber Riley – ist es okay, wenn ich Sie Riley nenne? – Sie haben mir am Telefon gesagt, dass sie ihn tatsächlich getroffen und ein wenig kennengelernt haben. Er muss recht faszinierend sein."

Riley dachte, dass sie so etwas wie Neid in der Stimme der Frau entdeckte.

Kelsey erhob sich aus ihrem Stuhl.

"Aber hören Sie sich mein Geplapper an, während sie einen Bösewicht zu fangen haben! Und wer weiß, was er gerade vorhat während wir uns hier unterhalten. Ich habe einige Informationen, die Ihnen womöglich helfen können. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was ich habe."

Sie fГјhrte Riley und Bill durch den Flur zu einer KellertГјr. Rileys Herzschlag wurde schneller.

Warum muss es in einem Keller sein? dachte sie.

Riley kämpfte nun schon seit geraumer Zeit mit einer irrationalen Angst vor Kellern – ein Überbleibsel ihrer PTBS, ausgelöst durch die Gefangenschaft in Petersons Kriechkeller und noch einmal verstärkt durch einen nicht lange zurückliegenden Fall, der in einem vollkommen verdunkelten Keller geendet hatte.

Aber als sie Kelsey die Stufen nach unten folgten, sah Riley nichts Verdächtiges. Der Keller war so gemütlich wie ein Freizeitraum. In einer Ecke war ein gut beleuchteter Bürobereich mit einem Schreibtisch, auf dem verschiedene Akten lagen, sowie Fotos und Zeitungsausschnitte.

"Hier ist es – alles Wissenswerte über 'Shane the Chain', seine Karriere und sein Ende", sagte Kelsey. "Nur zu. Fragen Sie, wenn Sie eine Erklärung zu etwas benötigen."

Riley und Bill sahen durch die Akten. Riley war Гјberrascht und erfreut. Es war eine faszinierende Sammlung von Informationen und vieles davon war niemals in die FBI Datenbank gescannt worden. Der Ordner, in dem sie gerade las, war vollgestopft mit scheinbar unwichtigen Informationen, wie Restaurantservietten mit handgeschriebenen Notizen und Skizzen zum Fall.

Sie öffnete einen anderen Order, der photokopierte Berichte und andere Dokumente enthielt. Riley bemerkte amüsiert, dass Kelsey sicherlich diese Akten nicht hätte kopieren oder behalten dürfen. Die Originale waren vermutlich schon vor einiger Zeit gescannt und geschreddert worden.

Während Bill und Riley durch die Dokumente sahen, sagte Kelsey, "Ich nehmen an, sie wundern sich, warum ich diesen Fall nicht ruhen lassen kann. Manchmal frage ich mich das selbst."

Sie dachte einen Moment nach.

"Shane Hatcher war meine eine Begegnung mit wahrem Bösen", sagte sie. "Während meiner ersten vierzehn Jahre im Büro, war ich nicht mehr als eine Schaufensterausstellung hier in Syracuse – die Quotenfrau. Aber ich habe von Anfang an an diesem Fall gearbeitet, mit den Gangmitgliedern auf der Straße geredet, das Team geleitet. Niemand dachte, dass ich Hatcher festnehmen könnte. Tatsächlich war sich niemand sicher, dass es überhaupt jemand konnte. Aber ich habe es geschafft."

Jetzt sah Riley durch einen Ordner mit Fotos schlechter Qualität, bei denen sich das Büro vermutlich nicht die Mühe gemacht hatte, sie einzuscannen. Kelsey hatte sie offensichtlich für wichtig genug gehalten, sie nicht wegzuschmeißen.

Eins zeigte einen Polizisten, der in einem CafГ© mit einem Gangmitglied redete. Riley erkannte den jungen Mann sofort als Shane Hatcher. Es dauerte einen Moment, bis sie den Polizisten erkannte.

"Das ist der Polizist, den Hatcher getötet hat, nicht wahr? sagte Riley.

Kelsey nickte.

"Officer Lucien Wayles", sagte sie. "Ich habe das Foto selbst geschossen."

"Warum spricht er hier mit Hatcher?"

Kelsey lächelte wissend.

"Nun, das ist recht interessant", sagte sie. "Ich nehme an, sie haben gehört, dass Officer Wayles ein aufrechter, dekorierter Polizist war. Das ist es, was die örtliche Polizei immer noch alle glauben machen will. Tatsächlich war er korrupt bis auf die Knochen. In diesem Foto traf er sich mit Hatcher, in der Hoffnung einen Deal mit ihm zu machen – einen Anteil an den Drogenprofiten, im Austausch dafür, dass er Hatcher in Ruhe lässt. Hatcher hat nein gesagt. Daraufhin hat Wayles entschieden Hatcher das Handwerk zu legen."

Kelsey zog das Foto von Wayles zerschundener Leiche heraus.

"Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat das fГјr Officer Wayles nicht allzu gut geendet", sagte sie.

Riley spürte wie sich langsam die Puzzleteile zusammensetzten. Das war genau das Material, nach dem sie gesucht hatte. Es brachte ihr ein besseres Verständnis für die Gedanken eines jungen Shane Hatcher.

Während sie das Foto von Hatcher und dem Polizisten betrachtete, versuchte Riley sich in den Verstand des jungen Mannes zu versetzen. Sie stellte sich vor, was Hatchers Gedanken und Gefühle in genau diesem Moment gewesen waren. Sie erinnerte sich außerdem an etwas, das Kelsey gerade gesagt hatte.

"Wissen Sie, er hat einen sehr strikten Kodex, selbst als Gangmitglied."

Aus ihren eigenen Unterredungen mit Hatcher wusste Riley, dass das auch heute noch so war. Wenn sie sich jetzt das Foto besah, dann konnte sie Hatchers Abscheu bei Wayles' Vorschlag fГјhlen.

Es hat ihn vor den Kopf gestoГџen, dachte Riley. Es fГјhlte sich wie eine Beleidigung an.

Kein Wunder, dass Hatcher dem Polizisten ein so grausames Ende bereitet hatte. Nach Hatchers verdrehtem Kodex, war das die moralisch richtige Antwort.

Als Riley durch weitere Fotos blätterte, fand sie das Fahndungsfoto eines anderen Gangmitglieds.

"Wer ist das?" fragte Riley.

"Smokey Moran", antwortete Kelsey. "Shane the Chains rechte Hand – bis ich ihn wegen Drogenhandel festgenommen habe. Ihm drohte eine lange Haftstrafe, also hatte ich keine Probleme damit, ihn als Zeugen gegen Hatcher zu gewinnen, im Austausch für eine mildere Strafe. So haben wir Hatcher schließlich bekommen."

Rileys Haut fing an zu prickeln, als sie das Foto in den Händen hielt.

"Was ist aus Moran geworden?" fragte sie.

Kelsey schГјttelte missbilligend den Kopf.

"Er ist immer noch da draußen", sagte sie. "Ich habe mir oft gewünscht, wir hätten diesen Deal nicht gemacht. Seit Jahren leitet er jetzt schon alle möglichen Gangaktivitäten. Die jungen Gangmitglieder sehen zu ihm auf und bewundern ihn. Er ist clever und schwer zu fassen. Die örtliche Polizei und das Büro waren nicht in der Lage, ihm das Handwerk zu legen."

Das prickelnde Gefühl nahm zu. Riley fand sich in Hatchers Gedanken wieder, wie er jahrzehntelang im Gefängnis über Morans Verrat nachgegrübelt hatte. In Hatchers moralischem Universum verdiente so ein Mann es nicht, zu leben. Und Gerechtigkeit war lange überfällig.

"Haben Sie eine aktuelle Adresse fГјr ihn?" fragte Riley Kelsey.

"Nein, aber ich bin sicher, dass das BГјro sie hat. Warum?"

Riley atmete tief durch.

"Weil Shane Hatcher dort hingeht, um ihn zu töten."




KAPITEL SIEBEN


Riley wusste, dass Smokey Moran sich in groГџer Gefahr befand. Doch wenn sie ehrlich war, dann kГјmmerte sie das Schicksal des Karriereverbrechers nicht wirklich.

Es ging um Shane Hatcher.

Ihre Mission war es, ihn wieder hinter Gitter zu bringen. Falls sie ihn fingen, bevor er Moran für seinen damaligen Verrat tötete, gut für ihn. Sie und Bill würden zu Morans Adresse fahren, ohne ihn vorzuwarnen. Das örtliche Büro konnte ihnen Leute zur Verstärkung dorthin schicken.

Die Fahrt von Kelsey Sprigges Mittelklasse-Haus in Searcy bis in die finstere, von Gangs kontrollierte Nachbarschaft in Syracuse, würde etwa eine halbe Stunde dauern. Der Himmel zeigte sich bewölkt, aber es fiel noch kein Schnee und der Verkehr bewegte sie flüssig auf den gut geräumten Straßen.

Während Bill fuhr, loggte Riley sich mit ihrem Handy in die FBI Datenbank ein und stellte ein paar schnelle Nachforschungen an. Sie sah, dass die Gang Situation vor Ort bedenklich war. Gangs hatten sich seit den frühen 1980er Jahren hier gebildet und zusammengeschlossen. Zu Zeiten von 'Shane the Chain' waren es hauptsächlich Einheimische gewesen. Seit dem hatten sich Gangs aus dem ganzen Land eingefunden und sorgten für größere Gewalt.

Die Drogen, die die Gewalt durch ihre Profite antrieben, waren seltsamer und gefährlicher geworden. Unter anderem umfassten sie Zigaretten, die in Einbalsamierungsflüssigkeit getunkt waren und Kristalle, genannt 'Badesalz', die Paranoia auslösten. Wer wusste, welche noch tödlichere Substanz bald um die Ecke kommen würde?

Als Bill vor dem heruntergekommenen Gebäude hielt, in dem Moran lebte, sah Riley zwei Männer mit FBI Jacken aus einem anderen Wagen steigen – Agenten McGill und Newton, die sie am Flughafen abgeholt hatten. Sie konnte an der Form ihrer Jacken sehen, dass sie schusssichere Westen darunter trugen. Beide hielten Remington Scharfschützengewehre.

"Moran wohnt im dritten Stock", sagte Riley.

Als die Gruppe von Agenten durch die Eingangstür des Gebäudes ging, trafen sie auf mehrere Männer, die in dem kalten und schäbigen Foyer standen und nach Gang–Mitgliedern aussahen. Sie standen einfach da, mit den Händen tief in den Taschen ihrer Kapuzenpullover vergraben, und schienen die bewaffneten Beamten gar nicht zu beachten.

Morans Bodyguards?

Sie dachte nicht, dass sie versuchen würden sie aufzuhalten, aber womöglich würden sie Moran signalisieren, dass sie auf dem Weg zu ihm waren.

McGill und Newton schienen die jungen Männer zu kennen. Die Agenten tasteten sie schnell ab.

"Wir sind hier, um Smokey Moran zu sehen", sagte Riley.

Keiner der Männer antwortete. Sie starrten die Agenten nur mit einem seltsamen, leeren Blick an. Das erschien Riley mehr als verdächtig.

"Raus", befahl Newton und die Männer nickten, bevor sie das Gebäude verließen.

Von Riley angeführt, stürmten die Agenten die drei Stockwerke nach oben. McGill und Newton kontrollierten sorgfältig jeden Flur. Im dritten Stock hielten sie vor Morans Wohnung.

Riley klopfte laut an die TГјr. Als niemand antwortete, rief sie:

"Smokey Moran, hier ist FBI Agentin Riley Paige. Meine Kollegen und ich mГјssen mit Ihnen reden. Wir haben nicht vor, Sie zu verletzen. Wir sind nicht hier, um Sie zu verhaften."

Wieder keine Antwort.

"Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Leben in Gefahr ist", rief Riley.

Immer noch keine Antwort.

Riley drГјckte die Klinke herunter. Zu ihrer Гњberraschung war die TГјr nicht verschlossen und schwang auf.

Die Agenten traten in ein ordentliches, nichtssagendes Apartment, mit so gut wie keinem Dekor. Es gab keinen Fernseher, keine elektronischen Geräte, kein Anzeichen von einem Computer. Riley wurde klar, dass Moran es schaffte, einen bedeuteten Einfluss auf die kriminelle Unterwelt auszuüben einfach indem er Befehle von Angesicht zu Angesicht gab. Ohne jemals online zu gehen oder ein Telefon zu benutzen, blieb er unter dem Radar der Strafverfolger.

Definitiv ein kluger Kerl, dachte Riley. Manchmal ist der altmodische Weg eben der Beste.

Aber er war nicht zu Hause. Die beiden örtlichen Beamten kontrollierten schnell alle Räume und Schränke. Niemand war in der Wohnung.

Sie gingen zurück ins Erdgeschoss. Als sie das Foyer erreichten, hoben McGill und Newton schussbereit ihre Gewehre. Die jungen Gang–Mitglieder warteten am Ende der Treppe auf sie.

Riley sah sie sich genauer an. Ihr wurde klar, dass sie offensichtlich die Anweisung gehabt hatten, Riley und ihre Kollegen die leere Wohnung durchsuchen zu lassen. Jetzt hatten sie etwas zu sagen.

"Smokey hat uns gesagt, dass Sie kommen wГјrden", sagte einer von ihnen.

"Er hat eine Nachricht fГјr Sie", sagte ein anderer.

"Suchen Sie drГјben im alten Buschnell Lagerhaus an der Dolliver Street", sagte ein Dritter.

Dann, ohne ein weiteres Wort, traten sie einen Schritt zur Seite und machten den Agenten den Weg frei.

"War er alleine?" fragte Riley.

"War er, als er hier losgegangen ist", antwortete einer der jungen Männer.

Eine Art bedrГјckende Vorahnung hing in der Luft. Riley wusste nicht, was sie davon halten sollte.

McGill und Newton behielten die Männer im Auge, während die Agenten das Gebäude verließen. Wieder auf der Straße, sagte Newton, "Ich weiß, wo das Lagerhaus ist."

"Ich auch", nickte McGill. "Das ist nur ein paar Blocks von hier. Ist verlassen und steht zum Verkauf. Angeblich soll ein teures Wohnhaus daraus werden. Aber mir gefällt das Ganze nicht. Das ist der perfekte Ort für eine Falle."

Er nahm sein Telefon und rief weitere Verstärkung, die sie dort treffen sollte.

"Wir mГјssen vorsichtig sein", sagte auch Riley. "Zeigen Sie uns den Weg."

Bill fuhr, dem SUV folgend. Beide Wagen hielten vor einem vierstöckigen Backsteingebäude mit einer abbröckelnden Fassade und zerbrochenen Fenstern. Vor ihnen hielt ein weiterer FBI Wagen.

Riley verstand, warum McGill mehr Verstärkung angefordert hatte. Das Gebäude war riesig und heruntergekommen, mit drei dunklen Stockwerken voller dunkler und zerbrochener Fenster. Jedes dieser Fenster konnte mühelos einen Scharfschützen verstecken.

Die örtlichen Beamten hatten alle Gewehre dabei, aber sie und Bill trugen nur ihre Pistolen. Sie könnten leicht in einen Hinterhalt geraten.

Trotzdem ergab eine Falle fГјr sie keinen Sinn. Nachdem er seit drei Jahrzehnten erfolgreich dem Gesetz ein Schnippchen geschlagen hatte, warum sollte ein so kluger Kerl wie Smokey Moran einen Schusswechsel mit dem FBI anzetteln?

Riley nahm das Funkgerät.

"Tragt ihr noch die Kevlars?" fragte sie.

"Ja", kam die Antwort.

"Gut. Bleiben Sie ihm Auto, bis ich Ihnen sage, dass Sie aussteigen sollen."

Bill hatte sich bereits in den gut ausgestatteten Kofferraum des SUV gebeugt und dort zwei Kevlarwesten fГјr sie gefunden. Er und Riley zogen sie schnell Гјber. Dann fand Riley ein Megafon.

Sie rollte das Fenster nach unten und rief in Richtung des Gebäudes.

"Smokey Moran, wir sind das FBI. Wir haben Ihre Nachricht bekommen. Wir sind hier, um mit Ihnen zu sprechen. Wir sind nicht hier, um Sie zu verhaften. Kommen Sie mit gehobenen Händen aus dem Gebäude und wir können uns unterhalten."

Sie wartete eine Minute ab. Nichts geschah.

Riley sprach wieder über das Funkgerät mit Newton und McGill.

"Agent Jeffreys und Ich steigen aus. Wenn wir draußen sind, kommen sie nach – mit gezogenen Waffen. Wir treffen uns alle am Eingang. Halten Sie den Blick nach oben. Wenn Sie irgendeine Bewegung sehen, gehen Sie sofort in Deckung."

Riley und Bill stiegen aus dem SUV und Newton und McGill taten es ihnen gleich. Drei weitere, schwer bewaffnete FBI Agenten stiegen aus dem anderen Wagen und kamen ebenfalls zu ihnen.

Die Agenten bewegten sich vorsichtig auf das Gebäude zu, die Augen auf die Fenster gerichtet, die Waffen im Anschlag. Schließlich erreichten sie die relative Sicherheit der riesigen Eingangstür.

"Was ist der Plan?" fragte McGill, der hörbar nervös war.

"Shane Hatcher verhaften, wenn er hier ist", sagte Riley. "Ihn töten, falls nötig. Und Smokey Moran finden."

Bill fügte hinzu, "Wir müssen das gesamte Gebäude durchsuchen."

Riley konnte an ihren Gesichtern ablesen, dass den anderen Agenten dieser Plan nicht gefiel. Sie konnte ihnen keinen Vorwurf machen.

"McGill", sagte sie, "fangen Sie im Erdgeschoss an und machen Ihren Weg nach oben. Jeffreys und ich gehen nach ganz oben und arbeiten uns nach unten durch. Wir treffen uns in der Mitte."

McGill nickte. Riley konnte Erleichterung über sein Gesicht flackern sehen. Sie wussten, dass die Gefahr mit großer Wahrscheinlichkeit nicht im unteren Teil des Gebäudes lag. Bill und Riley würden das größere Risiko übernehmen.

Newton sagte, "Ich gehe mit Ihnen mit."

Sie sah seinen entschlossenen Gesichtsausdruck und erhob keine Einwände.

Bill drückte die Türen auf und sie betraten nacheinander das Gebäude. Eisiger Wind pfiff durch die Fenster im Erdgeschoss, das hauptsächlich aus leerer Fläche bestand, mit einigen Pfeilern und Türen zu Nebenräumen. Riley und Bill überließen McGill und den drei anderen Agenten das Feld und bewegten sich zu der nach oben führenden Treppe. Newton folgte dicht hinter ihnen.

Trotz der Kälte konnte sie Schweiß in ihren Handschuhen und auf ihrer Stirn fühlen. Sie spürte ihr Herz hart gegen die Brust schlagen und bemühte sich, ihren Atem unter Kontrolle zu halten. Egal wie oft sie so etwas tat, sie würde sich nie daran gewöhnen. Das konnte niemand.

Endlich erreichten sie das oberste Stockwerk.

Die Leiche war das Erste, was Riley ins Auge fiel.

Sie war mit Klebeband an einen Pfeiler gefesselt und so schlimm zugerichtet, dass sie kaum noch menschlich aussah. Reifenketten hingen um ihren Hals.

Hatchers bevorzugte Waffe, erinnerte sich Riley.

"Das muss Moran sein", sagte Newton.

Riley und Bill tauchten einen Blick aus. Sie wussten, dass sie ihre Waffen noch nicht wegstecken durften – noch nicht. Die Leiche könnte ein Trick von Hatcher sein, um sie aus der Deckung zu locken.

Als sie auf die Leiche zugingen, blieb Newton einige Schritte zurГјck, das Gewehr bereit.

Gefrierende Blutlachen blieben an Rileys Schuhsohlen kleben, als sie sich der Leiche näherte. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen und es würde DNA oder Zahnabdrücke benötigen, um sie klar zu identifizieren. Aber Riley zweifelte nicht daran, dass Newton Recht hatte; das hier musste Smokey Moran sein. Groteskerweise waren seine Augen immer noch weit offen und der Kopf so an den Pfeiler geklebt, dass er geradewegs auf Riley zu starren schien.

Riley sah sich um.

"Hatcher ist nicht hier", sagte sie und steckte ihre Waffe weg.

Bill folgte ihrem Beispiel und trat dann ebenfalls zur Leiche. Newton blieb wachsam, hielt das Gewehr schussbereit und drehte sich immer wieder in alle Richtungen.

"Was ist das?" sagte Bill und zeigte auf ein gefaltetes StГјck Papier, das aus der Jackentasche des Opfers ragte.

Riley nahm das Papier heraus. Darauf stand:

"Ein Pferd ist an einer sieben Meter langen Kette und isst einen Apfel, der acht Meter entfernt ist. Wie ist das Pferd an den Apfel gekommen?"

Riley hatte eine dunkle Vorahnung. Es überraschte sie nicht, dass Shane nur ein Rätsel hinterlassen hatte. Sie reichte Bill das Papier. Bill las es und sah Riley dann verwirrt an.

"Die Kette ist nirgendwo befestigt", sagte Riley.

Bill nickte. Riley wusste, dass er die Bedeutung des Rätsels verstand:

Shane the Chain war entfesselt.

Und er fing gerade erst an, seine Freiheit zu genieГџen.




KAPITEL ACHT


Als sie an diesem Abend mit Bill an der Hotelbar saß, konnte Riley das Bild der zerschundenen Leiche nicht aus ihrem Kopf verbannen. Weder sie noch Bill hatten verstehen können, was passiert war. Sie konnte nicht glauben, dass Hatcher nur aus dem Gefängnis ausgebrochen war, um Smokey Moran zu töten. Aber es gab keinen Zweifel daran, dass er es getan hatte.

Die Weihnachtsbeleuchtung der Bar wirkte in ihrer Stimmung aufdringlich und grell statt festlich.

Sie hielt dem Barkeeper ihr leeres Glas entgegen. "Noch einen fГјr mich", sagte sie und reichte ihm das Glas.

Riley bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Bill sie unbehaglich ansah. Sie wusste, warum. Das war bereits der zweite Bourbon on the Rocks heute Abend. Bill kannte Rileys Verhältnis zu Alkohol, das nicht immer schön war.

"Mach dir keine Sorgen", beruhigte sie ihn. "Das ist der letzte fГјr heute."

Sie hatte nicht vor, sich zu betrinken. Aber sie brauchte ein wenig Entspannung. Das erste Glas hatte nicht geholfen und sie bezweifelte, dass es das zweite tun wГјrde.

Riley und Bill hatten den Rest des Tages mit den Nachwirkungen von Smokey Morans Tod verbracht. Während sie und Bill mit der örtlichen Polizei und dem Team des Gerichtsmediziners am Tatort gearbeitet hatten, waren die Agenten McGill und Newton zurück zu Morans Wohnung gefahren. Sie hatten mit den jungen Männern reden sollen, die dort zuvor im Foyer Wache standen. Aber die waren nirgendwo zu finden. Morans Wohnung blieb ungeschützt und unverschlossen.

Als der Barkeeper ihr den Whiskey auf die Bar stellte, erinnerte sich Riley an das, was die Männer zu ihnen gesagt hatten.

"Smokey hat uns gesagt, dass Sie kommen wГјrden."

"Er hat eine Nachricht fГјr Sie."

Dann hatten sie ihnen gesagt, wo sie Smokey Moran finden wГјrden.

Riley schüttelte den Kopf, während sie den Augenblick noch einmal in Gedanken abspielte.

"Wir hätten mit ihnen reden sollen, als wir die Möglichkeit dazu hatten", sagte sie zu Bill. "Wir hätten Fragen stellen sollen."

Bill zuckte mit den Achseln.

"Worüber?" fragte er. "Was hätten sie uns sagen können?"

Riley antwortete nicht. In Wahrheit wusste sie es auch nicht. Aber es kam ihr seltsam vor. Sie erinnerte sich an die Gesichter der Gang-Mitglieder – ernst, düster, sogar traurig. Es war fast so, als wüssten sie, dass ihr Anführer in seinen Tod gegangen ist, und das Betrauern bereits begonnen hätte. Die Tatsache, dass sie ihre Posten bereits verlassen hatten, schien das zu bestätigen.

Also was hatte Moran ihnen gesagt, bevor er gegangen war? Dass er zurückkommen würde? Riley verstand nicht, was er sich dabei gedacht hatte. Würde ein kluger, abgehärteter Krimineller wie Moran der Gefahr nicht aus dem Weg gehen? Warum war er überhaupt zu dem Lagerhaus gegangen, wenn er wusste, was dort auf ihn wartete.

Rileys Gedanken unterbrechend fragte Bill, "Was glaubst du, wird Hatcher als nächstes tun?"

"Ich weiГџ es nicht", sagte Riley.

Es war schwer das zuzugeben, aber die Wahrheit. Erfahrene Agenten bewachten Kelsey Sprigges Haus, für den Fall, dass sie Hatchers nächstes Ziel war. Aber Riley dachte nicht, dass das der Fall war. Kelsey hatte Recht. Hatcher würde die Frau nicht dafür töten, dass sie vor all den Jahren ihren Job gemacht hatte, vor allem, da sie sein Leben gerettet hatte.




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